Der Kapitalismus ist schuld. Und dieses Internet.

Dass es mit den „westlichen“ Zivilisationen bergab geht, ist seit 1918 nichts Neues mehr – damals erschien Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“. Aktuellste Symptome lassen sich nebst eigener, planmäßig angelegter Beobachtung des persönlichen Umfeldes auch der Tageszeitung Ihres Vertrauens entnehmen. Normalerweise sind ja immer die nachrückenden Generationen schuld, wie schon Sokrates wusste, aber qualitativ hochwertiger Journalismus lässt sich natürlich nicht vom Mainstream beeindrucken und dreht deswegen den Spieß um: die nächste Generation hat gar keine Chance, irgendwas zu werden, denn die jetzige weigert sich standhaft, sich ordentlich zu benehmen:

Die Leute werden immer infantiler.

Womöglich haben sie auch noch Spaß daran. Undenkbar. Und wer ist schuld? Der Kapitalismus natürlich.

Inzwischen hat die Industrie ihre Methode perfektioniert und sich systematisch eine Gesellschaft herangezüchtet, der die altersspezifischen Unterscheidungsmerkmale abhanden gekommen sind.

Klassischer Fall von misslungener Komplexitätsbewältigung. Eine Gesellschaft, die von „der Industrie“ gezielt „gezüchtet“ wurde, sähe sicher ander aus (Und wer ist „die Industrie“? Und inwiefern „gezüchtet“? Kann man Gesellschaften paaren und dann wieder die Nachkommen mit den nützlichsten Merkmalen…?). Der Satz ist außerdem so dermaßen wolkig, dass jeder Kulturpessimist sein eigenes Unbehagen an der Moderne und alles andere, worüber er sich heute seit dem Aufstehen geärgert hat, getrost hineinlegen kann. Und alle die, die im „Kapitalismus“ ihr Feindbild gefunden haben, werden auch gleich noch mit abgeholt.

Wir alle werden zu Kindern; die Sphäre der Erwachsenen, die von Vernunft, Selbstbeherrschung, Diskretion und allgemein von situativer Rücksicht gekennzeichnet ist, schwindet wie die Polkappen.

Der ganze Artikel macht das so: Erwachsen = positiv, Kindheit = negativ. Nichts davon, dass Kindheit neben einer Entwicklungsphase, durch die wir alle durch müssen und die durchaus auch ihr Schönes hat, auch ein soziales Konstrukt ist. Zu dem Thema gibt es ein ganzes Buch. Ist Recherche eigentlich auch infantil? Klar, das ist ein Rant, und die sollen gar nicht sachlich sein. Aber eigentlich beginnt hier der interessante Teil, aus dem sich viel schöpfen ließe: ganz grob gesagt, war die Kindheit früher wesentlich kürzer, so um das 7. Lebensjahr endete meist die „Schonfrist“. Die hat sich seit der Frühen Neuzeit immer weiter verlängert, und man könnte nun fragen, ob eine angeblich gesamtgesellschaftliche Infantilität vielleicht der Schwung des Pendels in die andere Richtung ist, als Ausgleich für sehr „erwachsene“ frühere Jahrhunderte. Und warum dann trotzdem aktuell der Trend dahin geht, möglichst schon im frühen Kindesalter alle nur denkbaren sinnvollen und nicht so sinnvollen Bildungsgrundsteine zu legen und bereits Grundschulkinder mit vollem Terminkalender unterwegs sind. Da verschwindet imho eher die Kindheit zugunsten des Erwachsenseins, oder jedenfalls einer Imitation desselben. Aber vielfältige Bezüge suchen ist ja langweilig, Diagnose macht viel mehr Spaß:

Eine solche zögerliche Einstellung [der Erwachsenen gegenüber „typischen Jugendprodukten“, Anm. J.], die auch etwas mit altersspezifischer Würde zu tun hatte, hielte den gegenwärtigen, so subtilen wie überwältigenden Werbestrategien nicht mehr stand. Diese sprechen vom Kind bis zum Rentner breiteste Altersschichten an und können auf deren Mitmachen auch getrost setzen.

Als jemand, der seit 10 Jahren keinen nennenswerten Fernsehkonsum mehr zu verzeichnen hat und sich nie an Werbung erinnern kann, kann ich natürlich nicht einschätzen, wie subtil und überwältigend diese nun ist. Aber grundsätzlich neigen Menschen ja dazu, ihre eigene Verführbarkeit unter- und die aller anderen zu überschätzen. Das ganze ist als „Third Person Effect“ leidlich bekannt, aber Grundkenntnisse in Medienwirkungsforschung sind anscheinend unter der altersspezifischen Würde mancher Leute, die sich mit Medien befassen. Neuere Kenntisse der Psychologie auch:

Deswegen muss auch niemand mehr die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufschieben – eine Fähigkeit, die seit Freud den erwachsenen Menschen ausmacht.

Nur zur Erinnerung: Freud ist der Typ, der fast alles auf infantile bzw. sexuelle Motive zurückführte, und wenn er dafür den Penisneid der Frau erfinden musste. Ob also ausgerechnet er das letzte Wort zum Erwachsensein gesprochen hat, sei dahingestellt.

Überall und rund um die Uhr können wir Waren bestellen, Fotos verschicken, mehrere Dinge gleichzeitig tun – essen, lesen, telefonieren, simsen und so weiter. […] Wo ist ein wirklicher Wechsel aus Reden und Schweigen noch möglich? Es wird viel zu viel kommuniziert, und die meiste Zeit geht damit drauf, dass man umständlich klärt, ob die Nachricht auch wirklich angekommen ist.

Wer legt eigentlich fest, wann „zu viel“ kommuniziert wird? Wer keine Lust darauf hat, muss es ja nicht machen. Die Bewertung der Kommunikationsintensität fremder Leute ist ja inzwischen fast schon ein eigenes Genre, das meistens mit einem Abgesang auf „echte“ Kommunikation einhergeht, aber das können wir eigentlich getrost überspringen, denn wen es unabhängig von eigener Betroffenheit bekümmert, wie andere ihre zwischenmenschlichen Kontakte gestalten, dem ist mit guten Worten allein wohl nicht geholfen, fürchte ich.

Die sozialen Netzwerke besorgen den Rest der allgemeinen Durchinfantilisierung: mit rumpfhaften Mitteilungen und der binären, recht eigentlich kindlichen Einstellung der „Like“-Buttons. Der politische Journalismus macht sich die schwindende Fähigkeit zur Differenzierung zu eigen, indem er uns mit immer neuen Umfragedaten zur ohnehin überschätzten Beliebtheit von Politikern beliefert.

Oder mit unerklärlicherweise auf Seite 1 des Feuilletons platzierten Rants. An dieser Stelle hätte ich auch gerne einen „Dislike“-Button, oder vielleicht einen „Chuck Norris hält den Untergang des Abendlandes auf“-Button, oder einen „Was genau hat Differenzierung mit Umfragewerten zu tun?“-Button. Ach nee… Moment… für sowas gibt´s ja das Kommentarfeld. Und es ist natürlich völlig infantil, zu seinem verstreuten Freundeskreis Kontakt aufrecht erhalten zu wollen, aber das mit der Verstreuung ist auch sowas Neumodisches, früher blieben die Leute schön ordentlich in ihrem Dorf und… sahen aus dem Fenster:

Und was ist mit dem wohltuenden Anblick von Menschen, die einfach mal gar nichts tun, die aus dem Fenster sehen und die Welt auf sich wirken lassen?

In meiner Straße wohnen gleich ein paar von der Sorte. Die haben keine Probleme mehr mit übertriebener Jugendlichkeit, dafür hängen sie sich dermaßen aufdringlich aus ihrem Hochparterrefenster, dass man ihren Mundgeruch riechen kann, und gucken Mädchen und Frauen auf den Hintern, während ihr eigener Anblick nun wirklich nicht mehr wohltuend ist. Warum der Autor übrigens empfiehlt, sich diesbezüglich auf einem Bahnsteig umzuschauen, erschließt sich mir nicht ohne weiteres – da gibt´s doch gar keine Fenster?! *mit digital verblödetem Gesichtsausdruck am Kopf kratz*

Die ununterbrochene digitale Kommunikation mit Abwesenden lässt die Menschen wie Autisten, ja, von einem rein phänomenologischen Standpunkt aus betrachtet, schon fast wie Geisteskranke aussehen.

Die meiste Betrachtung erfolgt irgendwie „phänomenologisch“. Und dieser Autismus-Vergleich nervt allmählich, man sollte meinen, in all den Jahren, die es nun schon Headsets gibt, hätte jeder ausreichend Gelegenheit gehabt, sich an Leute zu gewöhnen, die ohne auf den ersten Blick erkennbaren Grund mit der Luft reden.

Kinder, so im Durchschnitt betrachtet, haben auch ein paar positive Eigenschaften: sie sind anpassungsfähig, neugierig und lernwillig. Manch ein Erwachsener könnte sich daran noch ein Beispiel nehmen…

3 Kommentare

  1. Man schreibt immer hübsch passend für die Zielgruppe, hier: alt, männlich, wohlhabend.
    Dieser neumodische Schnickschnack ist doch total überflüssig, für die erforderliche Bedienung der Computer hat man schließlich Assistenten. Wieso da jemand freiwillig dran spielen möchte – unverständlich.
    Und diese ganzen modisch-jugendlich aufgemachten sogenannten Erwachsenen, das sind doch alles nur Prolls, die können sich eh kein Abo leisten.
    Kinder sind auch bloß notwendige Übel, die außer Sicht von der daheimbleibenden Ehefrau betreut werden. Die geraten möglichst erst ab ca. Studium ins Blickfeld.
    Und früher war doch eh alles besser. Übrigens auch die Auflage der FAZ. Keine Ahnung, woran das liegen könnte.

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    1. Natürlich nur daran, dass das Wertefundament der Gesellschaft erodiert. Das ist alles bloß dieser Hedonismus der 68er. Die waren ja auch so konsumkapitalistisch.

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  2. Und diese ganzen modisch-jugendlich aufgemachten sogenannten Erwachsenen, das sind doch alles nur Prolls, die können sich eh kein Abo leisten.

    Ich finde solche Erwachsenen durchaus hochgradig peinlich (für sich selbst), und ja, auch prollmäßig. Ich habe da vor allem das Blog einer über 30jährigen im Kopf, die schreibt als wäre sie 16. Der Artikel geht so schon ganz in Ordnung, ich habe ihm beim Lesen voll zugestimmt.

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