Ja bitte, ich höre.

Veronika von „Walk your Talk“ hat eine Blogparade übers Zuhören gestartet, und das ist so wunderbar kongruent mit etwas, was mir schon länger durch den Kopf geht, dass ich mich kurzentschlossen habe, da noch teilzunehmen (und weil ich gern mal wieder einen „normalen“ Text schreiben möchte, anstatt eines Gutachtens, oder Urteils, oder Beschlusses).

Vor einem Jahr verbrachte ich ziemlich viel Zeit damit, auf unbequemen Bürostühlen zu hocken, hektisch durch Abfahrtstafeln zu klicken und auf der Lautstärketaste des Telefons herumzuhämmern, während ich versuchte, die Idealposition für ein unergonomisches Headset zu finden. Hauptsächlich aber damit, Leuten zuzuhören. Ein wenig vermisse ich meinen alten Nebenjob im Callcenter – ach was, ein wenig. Überraschend heftig. Vermutlich, weil ich kaum je wieder Gelegenheit bekomme, so viel von fremden Leben mitzukriegen, jedenfalls nicht in dieser Bandbreite. Dabei war ein Großteil der Tätigkeit eher ärgerlich (Marktforschungsumfragen aus der Hölle) oder überfordernd (Tarifsysteme aus der Hölle). Trotzdem war ich jeden Tag aufs Neue davon fasziniert, wie viel man von einer Person erfahren kann, von der man lediglich die Stimme hört. Zunächst die simplen Sachen: alt oder jung, weiblich oder männlich. Wobei es auch „androgyne“ und alterslose Stimmen gibt – ein paar Kinder habe ich gesiezt, ein paar Erwachsene um ein Haar nach ihrer Mama gefragt, und ein paar mal habe ich in den allgemein statistischen Fragebogen-Abschnitten das Geschlecht geraten, weil mir Nachfragen zu peinlich gewesen wäre. Manche Leute hatten einen Akzent, wie der niederländische Professor, der seine 300m²-Wohnung zu bescheiden fand, oder der vermutlich arabischstämmige Jugendliche, der mich mit Hitler verglichen hat. Manche Leute hörten sich voluminös an, manche zart und zerbrechlich, und manche durchtrainiert. Es gibt Stimmen, bei denen man sofort jemanden vor sich sieht, der viel und gern lächelt, und solche, denen man schwere Krankheiten anhört, oder die schleppend und monoton sind. Bei manchen kommt ein bisschen Verzweiflung durch, wenn sie über ihren Familienstand reden („ledig“), bei manchen Selbstironie. Vieles war lustig – der Typ, der die Verkehrsbetriebe mit einem Escort-Service verwechselte, der, der mir sein Gehalt nicht sagen wollte mit der Begründung, ich würde ihn sonst bloß heiraten wollen, und die ältere Dame, die sich über ihr eigenes Unverständnis „über diesen modernen Kram“ am meisten amüsierte. Und manches traurig – die alte Frau, die schon lange allein lebt und deren Kinder und Enkel sie nie besuchen, oder die Anruferin, die versuchte, die Aboangelegenheiten einer todkranken Verwandten zu regeln. Und gelegentlich habe ich zu viel gehört, wie bei dem freundlichen Mann, der für eine völlig normale Frage („Schatz, wann genau wollten wir noch gleich fahren?“) von seiner Frau so ausdauernd und lautstark geruntergeputzt wurde, dass ich jedes Wort verstand und ihn am liebsten sofort nach Dienstschluss evakuiert hätte. Erstaunlich ist außerdem, wie viel Wut eine einzelne Stimme transportieren kann, ohne laut zu werden, und wie schwierig es ist, Leute ernst zu nehmen, die in Klischees sprechen. Wenn mir noch einmal jemand was „ganz unter uns Pastorentöchtern“ verrät… wenigstens konnte ich am Telefon hemmungslos Grimassen schneiden.

Manchmal hatte ich feierabends das Gefühl, eine Überdosis conditio humana abbekommen zu haben. Dann halfen im Wesentlichen zwei Dinge. Zum einen das Bewusstsein, dass meine Vorstellungen von den Anrufern nicht zwangsläufig der Realität entsprechen müssen, auf jeden Fall unvollständig sind und auf einer Menge Unterstellungen meinerseits beruhen. Vielleicht hatte die alte Frau wenigstens einen großartigen Freundeskreis. Vielleicht hat der unterdrückte Mann seine Frau inzwischen erschlagen verlassen. Vielleicht hat die junge Mutter, mit der ich so nett geplaudert habe, kurz vorher ihr kleines Kind so richtig übel angeschrieen. Vielleicht – wahrscheinlich – hatte derjenge, der so wütend über die Busverspätung war, eine Konfrontation mit einem unsympathischen Kollegen verloren. Und zum zweiten schlicht Abstand. Niemand hat irgendwas davon, wenn eine wildfremde Person sie bemitleidet, und am besten konnte ich den „armen Schluckern“ helfen, indem ich freundlich war und versuchte, meinen Job besonders gut zu machen.

Zudem war das, was ich zu hören bekam, extrem abhängig von meiner eigenen Tagesform. War ich müde und gereizt, oder deprimiert, lief so ziemlich gar nichts, und die Anrufer oder Angerufenen wurden ihrerseits schnell ungeduldig und pampig (selbst wenn ich denselben Text verwendete wie immer). War ich aber zu aufgekratzt oder wollte unbedingt die beste Bewertung des Monats haben, lief es auch nicht besser, weil ich dann dazu neigte, die Menschen am anderen Ende der Leitung zu überfahren. Wie man einen wachen, konzentrierten, aber entspannten Zustand erreicht, indem es am besten klappt mit dem Zuhören, dem Einhaken im richtigen Moment und der Gesprächskoordination, dafür habe ich auch kein Patentrezept, oder jedenfalls keines, das nicht auch einem chinesischen Glückskeks zu entnehmen wäre. Tendenziell funktionierte es besser, wenn ich mir zunächst selbst zuhörte, mir klar machte, dass manche Probleme einfach meine Probleme sind und nicht die von anderen Leuten – auch der ätzendste Anrufer kann nichts dafür, dass man selbst unausgeschlafen ist – und das ein „Danke, Sie haben mir sehr geholfen!“ der beste Grund ist, auch dem nächsten Anrufer wieder so freundlich wie möglich zu versichern: „Natürlich höre ich Ihnen zu, wie kann ich denn weiterhelfen?“

8 Kommentare

  1. Freundliche Gelassenheit ist eine Kunst, die JapanerInnen in den Genen haben. Aber ich weiß genau, was du sagen wolltest. Jede hat ihre fünf guten und schlechten Minuten. Und ich zum Glück (m)eine Elfe, die mich daran hindert Biest zu sein 😉

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  2. Herzlichen Dank für Deinen spannenden Beitrag zu meiner Blogparade. Du hast einen guten Einblick in die Tätigkeit im Call-Center gegeben. Das Fazit gefällt mir besonders gut – es kommt auf die eigene Stimmung an wie gut man zuhört und erstmal muss man sich selber zuhören.
    Von Herzen liebe Grüße Veronika

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    1. Danke dir, es war mir ein Vergnügen! Call-Center-Jobs müssen gar nicht zwingend monoton und ätzend sein… bei meinem habe ich jedenfalls viel gelernt.

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  3. Es ist schon eine Weile her, seit ich diesen deinen Eintrag gelesen habe, und seitdem musste ich immer mal wieder an ihn denken, weil er einfach so wunderbar geschrieben ist. Das hat ein Lob verdient, finde ich, nachhaltige Wirkung und so 🙂 Ein schönes Stück Literatur!

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