Selbstbestimmung – ein Nachruf

Nicht jedes Mal kann an dieser Stelle ein heiterer Text stehen. Das liegt hauptsächlich daran, dass unsere Welt eine so ernste ist, dass man den ganzen Tag nichts anderes tun möchte, als darauf hinzuweisen. Aber an dieser Stelle greift ein raffinierter Schutzmechanismus: eines der Dinge, die unsere Welt nämlich so ernst machen, ist die Tatsache, dass wir den ganzen Tag über Dinge tun müssen, die wir zu gefühlten 80% gar nicht wollen, aber tun müssen, und sind wir damit fertig, reichen Zeit und Energie nicht mehr, um Wahrheiten irgendwelcher Art zu verkünden oder auch nur zu denken.

Das nennt man Kapitalismus, könnte ich altklug hinzufügen, aber lassen wir die Platitüden da, wo sie hingehören, nämlich beiseite. Denn was stört, ist weniger der Kapitalismus an sich als die Tatsache, dass man sich meist wundert, wo die Zeit geblieben ist, aber nie, warum das überhaupt so sein muss, dass man keine hat. Dabei geht es auch anders. In der Steinzeit beispielsweise war noch alles in Ordnung, man erfand das Rad, die Männer-Frauen-Klischees und die Bronze, weil man den ganzen Tag nichts zu tun hatte, außer vielleicht mal ein Mammut jagen oder vor Säbelzahntigern flüchten. Das waren Zwänge höherer Natur, ansonsten konnten die frühen Menschen tun und lassen, was sie wollten, und mußten noch nicht einmal „Betreten Verboten“-Schilder, Drehgenehmigungen für Parkanlagen oder Öffnungszeiten von Biergärten berücksichtigen. Da der Mensch, offensichtlich schon der frühe, vor allem dann nicht glücklich ist, wenn er´s eigentlich objektiv betrachtet sein sollte, erfand man die Zivilisation, und die brachte genau die drei erwähnten Dinge und noch einige andere, teilweise noch unerfreulichere. Vor allem brachte sie selbstgeschaffene Zwänge jeder Art.

Nun mag der verständige Leser einwenden, dass eine Gemeinschaft ohne Regeln nicht funktionieren kann und der Mensch sich unter anderem darin gravierend vom Tier unterscheidet, dass er seine kurzfristigen gegen die langfristigen Impulse und Triebe abwägen kann. Der verständige Autor nickt und sieht ein, will sich aber nicht völlig geschlagen geben. Wohnt den Zehn Geboten tatsächlich noch ein höherer Wahrheits- und Sinngehalt inne, und kann man dies, wenn auch unter Einschränkungen, auch vom Grundgesetz behaupten, so sieht es mit der Richtlinie 97/21/EG der Kommission vom 18. April 1997 zur Anpassung der Richtlinie 80/1269/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Motorleistung von Kraftfahrzeugen an den technischen Fortschritt schon anders aus. Zu viele Zwänge sind einfach nicht gesund, dafür muss man nicht erst mühsame und gefährliche Feldforschung in einer beliebigen Diktatur betreiben, sondern einfach nur eine Zeitlang arbeiten gehen. Nun möchte ich Arbeit nicht als die Wurzel allen Übels verstanden wissen; im Grunde genommen dient sie dem Lebenserhalt, und für den sollte man Opfer zu bringen bereit sein, das eigene Leben notfalls eingeschlossen. Denn schuftet der Mensch von früh bis spät, bleibt irgendwann zumindest das Privatleben auf der Strecke, später die körperliche und seelische Gesundheit, und wenn er nach seinem Ableben, das bedauerlicherweise in den ersten Tag des Rentnerdaseins fällt, dermaleinst vor seinen Schöpfer tritt, stelle ich mir den Dialog etwa so vor:

„Was hast du dir vom Leben erwartet?“

„Liebe, Freundschaft, Glück, Familie [Liste beliebig ergänzbar].“

„Und was hast du dein ganzes Leben lang gemacht?“

„Ähm … gearbeitet.“

„Hat es dir geholfen, deine Erwartungen zu erfüllen?“

„Das wollte ich eigentlich nach der Rente machen…“

An dieser Stelle möchte ich all jenen gratulieren, die in der glücklichen Lage sind, Arbeit und eigene Interessen zu verbinden, und deren Protest, dass das eigentlich jeder könnte, gleich im Keim ersticken. Geld verdienen und „etwas Sinnvolles lernen“ sind mächtige Zwänge, denen sich die wenigsten entziehen können, und so ist man ganz fix drin in der Tretmühle und kann schon froh sein, wenn Zeit und Elan für beschauliche Hobbys und den Jahresurlaub bleiben. Fairerweise sei angemerkt, dass man auch nicht allen gestatten sollte, ihren Neigungen nachzugehen; kein Land brauch mehr als eine Handvoll selbsternannter Performance-Künstler oder Promenadologen. Andererseits braucht auch kein Land Millionen latent unglücklicher Menschen, die einen Großteil ihres Lebens mit etwas verbringen, was sie bestenfalls akzeptieren, aber nicht wirklich schätzen. „Fremdbestimmte Arbeit, die auch noch geistig fordert, stumpft ab“, bemerkte neulich ein Mensch, mit dem wir drehten, in einer sehr verräucherten Kneipe. Wenn dem so ist, dann braucht sich niemand zu wundern, warum der Typus des wachen und demokratisch engagierten Bürgers langsam ausstirbt. Bestenfalls hat man noch ein paar Zyniker, die „dem System“ ihren ätzenden Witz entgegensetzen, aber keinen Finger zu dessen Erhaltung oder gar Verbesserung krumm machen würden, geschweige denn auf die Idee kämen. Denn wer „das System“ durchschaut hat, befindet sich quasi schon außerhalb, und so haben wir eine „Unterschicht“, die meint, dank BILD etwas zu durchschauen und sich nicht schert, und eine „Oberschicht“, die tatsächlich durchschaut und sich auch nicht schert, und diejenigen, die weder durchschauen und noch sich scheren, und die, die durchschauen und sich scheren, aber nur solange, bis sie Politiker geworden sind und entweder am eigenen Idealismus gescheitert oder korrumpiert. In der Steinzeit oder in Revolutionsphasen wählte man solche dann per Keulenschlag oder Pistolenschuß ab, heute wählt man protest oder gar nicht. So wird also nichts besser, aber steigende Wachstumsraten der Wirtschaft trösten zuminest oberflächlich darüber hinweg.

Nachdem das so schön festgestellt wurde, mit der zeitgleich auftretenden Einsicht, dass sich auch durch diese Worte weder etwas ändert noch eine Antwort finden lässt, ist der Leser vermutlich deprimiert oder verärgert, vielleicht auch beides. Deswegen mache ich an dieser Stelle von dem Rest der mir verbliebenen Selbstbestimmung Gebrauch und endige, ohne dem Ganzen auch nur ansatzweise ein erbauliches, sinnvolles oder zum Umsturz aufrufendes Fazit hinzuzufügen. Eine Pointe schon gar nicht; wie gesagt, das Leben ist im Grunde genommen sehr ernst.

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