Monster

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EMonsterhäuser gibt es nicht nur auf Sizilien, sondern auch in Kiew: 1903 baute der Architekt Vladislav Horodezki dieses Prachtstück aus Beton, auch wenn sein Thema nicht, wie in Sizilien, ein entgleister Ständetanz ist, sondern Seefahrt und Großwildjagd. Das Haus wird als „Haus der Chimären“ oder eben Monsterhaus bezeichnet, und unter diesem Gesichtspunkt ist vielleicht noch anzumerken, dass es zu Sowjet-Zeiten als Klinik für Politiker diente und jetzt als Präsidentenresidenz.

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Auf seiner italienischen Reise kam Goethe in Sizilien an einer Villa in Bagheria, Sizilien vorbei, die ihn nachhaltig verstörte:

Heute den ganzen Tag beschäftigte uns der Unsinn des Prinzen Pallagonia, und auch diese Torheiten waren ganz etwas anders, als wir uns lesend und hörend vorgestellt.

Die Villa ist angelegt, wie es zu der Zeit üblich war: in der Mitte des Besitztums ist das Schloss, umgeben von einer Mauer, daran anschließend Felder und Gärten.

Dies ist die Art der Anlage, wie sie herkömmlich gegeben ist, wie sie auch schon früher mag bestanden haben, bis der Vater des Prinzen das Schloß baute, zwar auch nicht in dem besten, aber doch erträglichem Geschmack. Der jetzige Besitzer aber, ohne jene allgemeinen Grundzüge zu verlassen, erlaubt seiner Lust und Leidenschaft zu mißgestaltetem, abgeschmacktem Gebilde den freisten Lauf, und man erzeigt ihm viel zuviel Ehre, wenn man ihm nur einen Funken Einbildungskraft zuschreibt.

Was genau hat Goethe so aufgeregt? Das hier:

Wer auf edle Einfalt und stille Größe steht, dem müssen übereinander purzelnde Drachen wie der Untergang des Abendlandes vorgekommen sein:

Und ein ganzer Torbogen voll davon erst recht:

Von einem „unangenehmen Gefühl […], das einen jeden überfallen muß, wenn er durch diese Spitzruten des Wahnsinns durchgejagt wird“, habe ich nichts gemerkt. Ich fand die süß.

52 Bücher, Woche 13: Monster

Wer mit Fellmonstern spielt, der muss früher oder später damit rechnen, dass etwas Monströses passiert, und demzufolge lautet das Bücherthema heute Monster.  Meine allererste Assoziation hat besagtes Fellmonster auch gehabt, und deswegen kann ich hier nicht über Christian Mosers „Monster des Alltags“ schreiben, was eigentlich ganz gut gepasst hätte, da ich nach den doch eher schwermütigen Kinderbüchern wieder was Heiteres bringen wollte. Allerdings ist mir heute insgesamt nicht besonders heiter zumute, ich fürchte, da müsst ihr nochmal durch eine düstere Lektüre durch.

Als Zweites fiel mir die typische Assoziation Monster –> Psychopathen, Massenmörder u. dergl. ein. Über Jean-Baptiste Grenouille habe ich hier schon kurz geschrieben, aber da der ziemlich glatt als Monster durchgeht, wäre das zu einfach. Dann sinnierte ich vor dem Bücherregal eine Weile über einer Stalin-Biographie, der ich mich dann doch nicht gewachsen fühlte. Und dann lächelte mich aus einer dunklen Ecke des Bücherregals ein Band mit schwarzem Rücken und einem weißen „M“ wissend an, und ich hatte mein Monster für heute: ein Remake von Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ als Graphic Novel, bearbeitet von Jon J Muth mit einem unglaublichen Aufwand: die Rollen wurden mit Freunden, Anghörigen oder Fremden neu besetzt, die Szenen fotographiert, die Fotos als Skizzengrundlage verwendet und mit Silberstift, Holzkohle, Graphit, Pastell- und Ölfarben nachbearbeitet.

„Während ich zeichnete und malte, passierte etwas Interessantes. Egal welches Gefühl ein Foto hervorrief, jedesmal, wenn ich es als Zeichnung umsetzte, evozierte die Zeichnung eine andere Bandbreite an Emotionen als das Foto. […] Die vorherrschende Stimmung des Bandes ist von Trauer, Verlust und Sehnsucht gekennzeichnet. Das war eine Entdeckung, und nicht meine Absicht.“

schreibt der Autor im Nachwort, wobei Trauer, Verlust und Sehnsucht wohl adäquat sind, wenn es um einen derartig harten Tobak von einer Geschichte geht. In einer großen Stadt, in der die Leute „Icke“ sagen, und „Jören“, verschwindet Elise Beckmann. Den Fremden, der ihr einen Luftballon schenkt, bekommen wir nicht zu Gesicht, dafür ihre Mutter, die mit dem Abendessen vergeblich auf sie wartet. Elsie ist nicht das einzige Kind, das verschwindet, die Bevölkerung gerät in Hysterie, und die täglichen Razzien der Polizei verderben den Unterweltbossen, der „Ringorganisation“, die Geschäfte, sehr zum Ärger ihres Vorsitzenden, des Schränkers. „Wir üben unseren Beruf aus, weil wir existieren müssen. Aber diese Bestie hat kein Recht zu existieren. Die muss weg!“, sagt ein anderer. Mithilfe der Bettler überwachen sie die Stadt, und ein blinder Luftballonverkäufer gibt schließlich den entscheidenden Hinweis (der Mörder, Hans Becker, pfeift immer diesselbe Melodie). Dank eines weißen „M“ auf dem Rücken können ihn die Häscher der Unterwelt schließlich in einem leerstehenden Bürogebäude in die Enge treiben, fangen und ihm einen Prozess mit von vornherein klarem Ausgang machen, während die Polizei mit etwas rechtsstaatlicheren Methoden ihren Ermittlungsrückstand langsam aufholt.

In der an sich nicht allzu komplizierten Geschichte steckt jede Menge, darunter auch eines meiner Lieblingsthemen, über das ich anlässlich Herrn Gs. schon mal geschrieben habe: auch Mörder, auch Kindesmörder, von Boulevard-Medien und in Kommentarspalten gern „Monster“ o.ä. genannt, haben ein Recht auf einen fairen Prozess. Hans Becker gesteht vor der versammelten Unter- und Halbwelt, dass er morden muss, dem Drang gar nicht entkommen kann: „Es ist einer hinter mir her… lautlos. Das bin ich selber! […] Und mit mir rennen die Gespenster. Gespenster von Müttern. Von Kindern. Die geh´n nie mehr weg. […] Wie ich´s tun muss! Will nicht! Muss! Will nicht!“ Das heißt nicht, dass er frei sein darf, oder, wie sein Verteidiger es so schön sagt: „Einen kranken Menschen übergibt man nicht dem Henker, man übergibt ihn dem Arzt.“ (Oder der Sicherungsverwahrung.) Er wird allerdings von einer aufgebrachten Meute niedergeschrien. Kurz bevor es zum Lynchmord kommt, wird Becker von Kommissar Lohmann gerettet. Im Film erhält er dann von der „regulären“ Justiz das Todesurteil, in einer überarbeiteten Fassung und auch in der Graphic Novel endet die Geschichte ohne Urteilsverkündung mit der lapidaren Feststellung „Man muss halt auf die Kleinen besser aufpassen.“

Jon J Muth (und, ich nehme mal an, auch Fritz Lang, den Film muss ich erst noch gucken) zeigen detailreicher, als ich es jetzt hier ausführen kann, alle Facetten: das Leid der Mütter, die fieberhafte Suche der Polizei, die Wut der Gangster. Die Hoffnung des Lesers, Becker möge endlich gefasst werden, schlägt plötzlich um, der Schränker, dem es vor allem um seine Geschäfte geht, schwingt sich zum Herrn über Leben und Tod auf und der Kommissar kommt „gerade noch rechtzeitig“ für jemanden, für den wir eigentlich keinerlei Sympathie empfinden. Wofür das M steht – Mörder, Monster, oder doch Mensch- , muss jeder selbst entscheiden.