Monat: April 2012

Das Entwöhnen junger Tiere von ihrer Mutter

„Der Wortlaut ist die Grenze der Auslegung“, bekommt man im Jurastudium schon recht früh beigbracht. Das wäre viel hilfreicher, wenn Sprache nicht so schrecklich ungenau wäre und der Gesetzgeber nicht mit ungeschickter Wortwahl manchmal noch eins drauf setzte. Mein Kandidat des Tages für nicht so gelungene Gesetzesformulierungen ist heute die Hehlerei, § 259 StGB. Darin heißt es:

Wer eine Sache, die ein anderer gestohlen oder sonst durch eine gegen fremdes Vermögen gerichtete rechtswidrige Tat erlangt hat, ankauft oder sonst sich oder einem Dritten verschafft, sie absetzt oder absetzen hilft, um sich oder einen Dritten zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Besonders umstritten ist die Tathandlung „absetzen“. Früher stand da noch „zum Absatz mitwirken“, was klar machte, dass auch derjenige als Hehler bestraft werden soll, der den Weiterverkauf nur vorbereitet. Der BGH meint nun aber, diese Bedeutung gelte auch weiterhin, auf einen erfolgreichen Weiterverkauf käme es gar nicht an. Warum dann aber der Wortlaut in „absetzt oder absetzen hilft“ geändert wurde, erschließt sich zumindest mir auch anhand der entsprechenden Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 7/550, S. 252) nicht. Vermutlich wollte der Gesetzgeber die bisherige Deutung durchaus beibehalten und nur klarstellen, dass auch jemand, der selbstständig Diebesgut in Absprache mit dem Dieb vertickt, Hehler sein soll. Wenn ja, dann ist das nicht besonders gut gelungen –  „Absetzen“ ist ein recht schillerndes Verb. Man kann Medikamente absetzen, oder Spenden von der Steuer, oder jemanden an der Straßenecke, außerdem kann sich Staub auf Möbeln absetzen oder ein Bewerber von anderen, Serien und Diktatoren werden abgesetzt und junge Tiere von ihren Müttern. Zwischen dem BGH und dem Rest der Welt der Kommentarliteratur ist daher ein erbitterter Streit darüber entbrannt, ob für „Absetzen“ ein erfolgreiches „Verschieben der Verfügungsgewalt über die gestohlene Sache auf eine andere Person“ notwendig ist (der klassisch-klischeehafte Hehler verkauft die geklauten Antiquitäten an den skupellosen reichen Sammler), damit der Tatbestand erfüllt ist. Sieht man das so, wie es die Literatur tut, dann ist nur derjenige als Hehler zu bestrafen, der wirklich weiterverkauft, alle anderen höchstens wegen versuchter Hehlerei. Der BGH wiederum meint, auf einen Erfolg kommt es nicht an, und bestraft so ziemlich alles, was bei Drei immer noch mit gestohlener Ware hantiert – er möchte dem klassisch-klischeehaften Hehler das volle Strafmaß schon dann aufbrummen, wenn der gerade erst angefangen hat, vorsichtige Offerten an ihm bekannte reiche Sammler zu streuen. Sieht man das so wie der BGH, läuft allerdings die Strafbarkeit des Versuches der Hehlerei, die in § 259 Abs. 3 festgelegt ist, völlig leer – wenn selbst Vorbereitungen zum Verkauf bereits die volle Strafbarkeit begründen, bleibt kein Platz mehr für einen Versuch, und damit auch nicht für einen eventuellen strafbefreienden Rücktritt (falls unser Hehler vielleicht doch Skrupel hat, die aus dem Neuen Museum in Berlin geklaute Büste der Nofrete an einen russischen Oligarchen zu verscherbeln, und sie heimlich nachts auf der Schwelle des Museums wieder absetzt, würde er trotzdem voll bestraft).

Neben taktischen Erwägungen (die an den meisten Kriminellen ohnehin völlig vorbeigehen, fürchte ich) spricht aber noch der Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG gegen die weite Auslegung von „Absetzen“: die Tat muss „bestimmt“ sein, und aus obiger Spontansammlung ergibt sich meines Erachtens, dass „absetzen“ immer etwas mit Trennen, Verselbstständigen, Loswerden zu tun hat. Um eine Sache loszuwerden oder sich von ihr zu trennen, braucht man aber jemanden, der sie stattdessen nimmt, wenn man sie nicht gerade einfach auf die Straße werfen will. Das passt auch besser zum eigentlichen Grund, aus dem Hehlerei strafbar ist: die durch den Diebstahl geschaffene rechtswidrige Besitzeslage soll nicht auch noch dadurch verlängert bzw. verfestigt werden, dass jemand anderes sich der Sache annimmt und sie an wieder jemand anderen weiterreicht (und dafür auch noch Geld einstreicht). Das „Verkaufen“, „Veräußern“, „entgeltliche Überlassen“ oder von mir aus „Verhökern“, das man gern unter Strafe gestellt haben möchte, ins Gesetz zu schreiben, wäre wohl zu einfach.

Die verwirrende Halbrealität der Literatur-Geschichte

Die FAZ hat Bruno Schulz entdeckt, was mich prinzipiell sehr freut. Allerdings kommt der Artikel nicht ohne die von mir schon am Freitag bekrittelten Kafka-Parallelen aus, was mich ein bisschen ärgert, denn auch wenn hierzulande ruhig mehr Leute Bruno Schulz kennenlernen können, ist es keine gute Idee, ihn mit Kafka in einen Topf zu hauen. Erstens weckt das völlig falsche Erwartungen, und zweitens zeugt es von einem gewissen Mangel an Einfühlungsvermögen, was phantastische Literatur betrifft. Falls irgendwen ein völlig zielloser Text über zwei tote Autoren interessiert – bitte folgen Sie mir.

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Machen Sie eine typische Handbewegung

Ohne ihren Auftritt im DLF gestern wären die Ärzte wohl weiter in der Peripherie meiner Wahrnehmung herumgedriftet, was schade wäre, denn sonst hätte ich „Captain Metal“ völlig verpasst (Anhören empfiehlt sich, allein zum besseren Verständnis). Den stelle ich mir, inklusive Superman-Pose, in etwa so vor:

Okay, es ist wohl eher Captain Hardrock draus geworden, denn nachdem ich mich etwas intensiver mit den musikalischen Schmink-Kodizes befast habe, fiel mir auf, dass die ganzen Metal-Bands zum Modell „dunkles Triefauge“ neigen, während lustige Kreise und Sternchen den Hardrockbands vorbehalten sind. Aber wer sagt eigentlich, dass Captain Metal ein Mann sein muss? (Kollegin Wonder Woman stand freundlicherweise Modell.)

52 Bücher, 25. Woche: Das nächste Buch ist immer das nächste

Von wegen einfaches Thema. Ich kann mich gar nicht entscheiden, welches Buch ich als nächstes lesen möchte„. „Schuldrecht I“ von Dirk Looschelders ist ein heißer Kandidat, aber darauf sollte „Schuldrecht II“ von ebendiesem folgen. Vielleicht lese ich doch erst mal „Öffentliches Baurecht“ von Stefan Muckel, und in der Ferne dräuen dann schon „Strafrecht AT“ und „BT“ von Claus Roxin, wobei ich die immer aufschiebe, denn in der Zeit könnte ich auch „Gesellschaftsrecht“ von Justus Meyer lesen, und vielleicht mal das ungeliebte Erbrecht in Angriff nehmen… ganz schlechter Einstieg, merke ich gerade. Wenn ich hier so weitermache, bricht der Beitrag ab, und während ihr verwundert auf einen halbfertigen Satz starrt, laufe ich zu Hause schreiend im Kreis. Ich muss ohnehin schon der Versuchung widerstehen, das Countdown-Widget einzubauen, dass dann die Tage bis zum Examen im August runterzählt, und vermutlich zum selben Erfolg führen würde.

Aber zum Glück hab ich ja vor dem Jurastudium meinen Horizont noch ein bisschen in die nutzlose geisteswissenschaftliche Richtung erweitert, und seinerzeit eine Hausarbeit über „Die Zimtläden“ von Bruno Schulz geschrieben. 2012 ist sogar das polnische Bruno-Schulz-Jahr. Allerdings stehen „Die Zimtläden“, vor einigen Wochen bestellt, seitdem im Regal, als das „ewige nächste Buch“, und ich kann mich nicht dazu durchringen, es zu lesen. Vermutlich, weil ich dann schreckliches Fernweh bekomme nach einer Gegend, die es nicht mehr gibt – Bruno Schulz lebte von 1892 bis 1942 in einem Teil Galiziens, der heute zur Ukraine gehört, und für die Gegend habe ich ja eine Schwäche, seit ich dort war. Ursprünglich aus Briefen entstanden, erzählen die „Zimtläden“ in etwas kurioser zeitlicher Abfolge von dem Jungen Józef, dessen Vater an einer mysteriösen Krankheit dahinwelkt, und von Józefs Kindheitserlebnissen, der drohenden Verarmung, dem Dienstmädchen Adela, und jeder Menge Vögel, die der Vater auf dem Dachboden züchtet. Schulz´ Stil ist von einem überbordenden Metapherngebrauch und ausgiebigen mythologischen Verflechtungen gekennzeichnet. Manche Stimmungen fängt er großartig ein, wie in dieser Beschreibung eines Herbsttages:

„Kaum hatte sich der Tag aus den bräunlichen Rauch- und Nebelschwaden des Morgens herausgewickelt, kippte er auch schon wieder in einen tiefen, bernsteindunklen Nachmittag, wurde für kurze Zeit transparent und golden wie dunkles Bier, um gleich darauf in den vielfältig zergliederten, phantastischen Gewölben farbenfroher und ausgedehnter Nächte unterzugehen.“ („Die Zimtläden“, München 2009, S. 22)

Manchmal geht es einfach nur mit ihm durch:

„Auf diesen Gartenschultern war die liederliche weibische Üppigkeit des August bis in die stillen Klüfte der mächtigen Kletten ausgeufert und hatte sich mit haarigen Blattblechen und wuchernden Zungen fleischigen Grüns breitgemacht. Dort sperrten die wulstigen Klettenungetüme ihre Glotzaugen auf, wie breit hingehockte, von den eigenen, wahnsinnig gewordenen Röcken halb aufgefressene Weibsbilder.“ (S. 13)

Und bisweilen glaubt man sich in einem bizarren Traum, vor allem, wenn er über die Krankheit seines Vaters schreibt:

„Manchmal kletterte er auf die Gardinenstange. […] Und in dieser Starre, zusammengekauert, mit vernebeltem Blick und listig grinsend, verharrte er stundenlang, um plötzlich, wenn irgendwer hereinkam, mit den Armen wie mit Flügeln zu schlagen und wie ein Hahn zu krähen.“ (S. 31)

(An dieser Stelle sei die Übersetzerin aus dem Polnischen, Doreen Daume, ausdrücklich gewürdigt. Ich wäre irgendwann durchgedreht, und sie hat es noch geschafft, bestimmte lautmalerische Spielereien zu übertragen.) Zum fortgesetzten Unglück für die Literaturwissenschaften verwandelt sich sein Vater in einer Geschichte allmählich in eine Kakerlake, was (unter anderem) zu einem nicht abreißenden Strom von Kafka-Vergleichen geführt hat, die allerdings völlig in die Irre gehen: zum einen schreibt Bruno Schulz viel farbiger (sinnigerweise war sein Brotberuf Zeichenlehrer), und während Kafka seine Szenarien gewissermaßen in Schwarz-Weiß und mit juristischer Präzision durchexerziert, erschafft sich Schulz eine assoziativ funktionierende Welt, in der sein früh verstorbener Vater immer noch präsent und die von Magie und alttestamentarischen Anspielungen durchtränkt ist. Für ihn  war das Schreiben Flucht aus einem Leben, in dem er für seine Kunst zu wenig Zeit hatte, einen ungeliebten Beruf ausübte (obwohl seine Schüler ihn verehrten), seine Geliebte nicht heiraten konnte (sie war Katholikin und er Jude, was zu letztlich unlösbaren administrativen Schwierigkeiten führte) und zahlreiche Angehörige früh verlor. Sein Tod ist von alledem die tragischste Geschichte: im Auftrag seines „Gönners“, SS-Hauptscharführer Landau, malte Bruno Schulz Märchenbilder für dessen Kinder an die Zimmerwände, wurde jedoch erschossen, da Landau den Schützling eines anderen SS-Scharführers umgebracht hatte. Die Wandbilder, verloren geglaubt und von einem Bewunderer Schulz´, Jerzy Ficowski, und einem Dokumentarfilmer namens Benjamin Geissler wiederentdeckt, verschwanden in einer Nacht- und Nebel-Aktion – nach Yad Vashem.

52 Bücher, 23. Woche: Sperenzchen in der Schwerelosigkeit

Was für ein Pech – mein schönstes Buch (Woche 22) liegt bei meinen Eltern, und beim Buch zum Thema Religion (Woche 23 – unter anderem), über das ich eigentlich schreiben wollte, fiel mir auf, dass ich es nicht verstanden habe, und danach hatte ich keine Lust mehr, mir aus den, ähm, sorgfältig abgestimmen anderen Themen was rauszusuchen. Beinahe wäre eine Serie daraus geworden, denn die „glaubwürdigste Sexszene“ befindet sich ebenfalls in einem Buch, dass ich im Moment nicht zur Hand habe, ich weiß nur noch, dass es um Schwerelosigkeit geht.

(Nebenbei: Wann genau ist eine Sexszene eigentlich glaubwürdig? Da fällt mir, rein anekdotisch und nur lose mit dem Thema verbunden, ein Spiegel-Interview mit Alice Schwarzer ein, bei dem der Interviewer versuchte, ihr zu entlocken, wie „feministisch korrekter Sex“ aussähe. Sie schnappte ihn irgendwann an, von ihr aus könnten sich die Leute nackt an den Kronleuchter hängen. Das Interview drehte sich dann noch um eine Menge anderer Themen, bei denen Frau Schwarzer meiner Ansicht nach überraschend sympathisch rüberkam und viel Spannendes und Kluges erzählte, aber der Titel des Interviews in der Printausgabe lautete natürlich: „Von mir aus können Sie sich nackt an den Kronleuchter hängen.“ Digital nachzulesen hier.)

So, zurück zur Geschichte. Sie stammt aus der Kurzgeschichten-Sammlung „Der Planet mit den sieben Masken“, und dankenswerterweise habe ich deren Inhaltsverzeichnis gefunden, das mir verrät, dass es sich Pierre Boulles „Die Liebe und die Schwerelosgkeit“ handelt, wobei mir wieder einfiel, dass es um eine Hochzeitsnacht auf einer Raumstation geht, die dank der Schwerelosigkeit etwas, nunja, unromantisch wird. Und es wäre kein Sex-Thema, wenn nicht Spiegel Online schonmal drüber geschrieben hätte, sodass ich nun auch die Namen der Protagonisten weiß, was der Erinnerung insgesamt auf die Sprünge hilft: Mechaniker Joe heiratet bei einem Raumflug (oder auf einer Raumstation) seine Betty, und beschreibt rückblickend aus der Ich-Perspektive, wie sie irgendwie versuchen, das Beste aus ihrer schwerelosen Hochzeitsnacht zu machen, aber sie schweben die ganze Zeit nur verknotet in der Gegend herum und holen sich blaue Flecke, und am Ende verschieben sie die Hochzeitsnacht auf ihre Rückkehr zur Erde. Joe formuliert sehr nüchtern und sachlich, und er vergisst auch nicht, zu erwähnen, dass das für seine junge, noch unerfahrene Frau eher traumatisch als lustig war, aber insgesamt ist das Ganze trotz humoriger Einlagen weder pornographisch noch slapstickhaft, sondern auf eine durchaus glaubwürdige Weise lustig. Wenn ich so drüber nachdenke: möglicherweise hing in Joes und Bettys Hochzeitssuite sogar ein Kronleuchter.

Metasenf (2)

Literaturnobelpreis hin oder her, ich habe bislang nur einen Satz von Günter Grass gelesen („Ilsebill salzte nach.“, damit beginnt „Der Butt“) und musste darüber herzlich lachen. Lachen konnte ich über seine neuesten Zeilen nicht so richtig, aber sieht man sich die Reaktionen an, dann ist es mal wieder an der Zeit, die Antizyklische Aufregungsrichtlinie anzuwenden, die das Posten von Bildern niedlicher Tiere in Zeiten großen Empörungspotentials vorsieht.

Zuerst niedliche Tiere, passend zur Jahreszeit:

Und jetzt noch ein bisschen zum Empörungspotential:

Ad 1: Hat irgendjemand was Wichtiges gesagt? Wir alle sind gegen Atombomben, irgendwer wirft den „Systemmedien“ Schweigekartelle und Meinungsgleichschaltung vor, und Henryk M. Broder bezeichnet Leute als Antisemiten. Wie immer also.

Ad 2 ergibt sich unmittelbar aus Ad 1: Grass kann doch nicht ernsthaft behaupten, er fürchte sich vor dem „Verdikt“ (lat. vere dictum, Wahrspruch, eig. Urteil) „Antisemitismus“, so dermaßen inflationär, wie das gebraucht wird. (Wobei es schon ziemlich traurig ist, dass das ein Reflex ist, mit dem man rechnen muss, sobald irgendwer bloß im falschen Tonfall „Israel“ sagt. Quasi der Präventiv-Schlag mit der Nazi-Keule.) Sein ganzer Text besteht eigentlich nur aus Posen: Die „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Pose, die „Elder Statesman“-Pose, die „Auch Israel muss kritisiert werden dürfen“-Pose, die „Gerade wir als Deutsche“-Pose, die „Oh weh, unser Land exportiert Waffen“-Pose und die „Ich meine es nur gut mit Israel“-Pose. Zieht man die alle ab, bleibt am Ende übrig: „Ich finde atomare Erstschläge doof.“ Wer mag die schon?

Ad 3: Eines Tages werde ich gründlich darüber nachdenken müssen, warum ich die Friedensbewegung, die Grass – wohl für diese Grundaussage – beigesprungen ist, so naiv finde. Einerseits kann man ihnen schwer widersprechen (wie gesagt – wer findet Krieg und Waffenexport schon toll?), und ich halte es auch für wichtig, das zu artikulieren, andererseits werde ich den nagenden Verdacht nicht los, dass, würden „Reicht euch die Hände zur Versöhnung“-Appelle funktionieren, wir nicht nur dieses Problem, sondern auch ein paar andere nicht hätten, und dass insofern ein pragmatischerer Ansatz durchaus sinnvoll sein kann. Hinwiederum andererseits kann ich mir gut vorstellen, dass alle Beteiligten vor lauter Pragmatismus den Wald nicht mehr sehen. Natürlich macht sich „Endlich Frieden!“ auf einem Plakat besser als „Die Europäer müssen eine glaubwürdige Haltung zum Arabischen Frühling und damit auch zur Palästina-Frage finden, damit sie sich noch rechtzeitig um eine Wiederaufnahme von vielleicht endlich mal konstruktiven Friedensverhandlungen bemühen können, weil die USA ja grad im Wahlkampf stecken und damit als Vermittler vorübergehend ausfallen, und wenn sich die Lage weiter so zuspitzt, könnte es in der Tat bald zu spät sein, also MACHT WAS“. Und vielleicht ist das zynisch, aber ich finde es ein bisschem bequem, sich mit nahezu unwidersprechbaren Maximalforderungen auf die Straße zu stellen und dann achselzuckend zu konstatieren, dass „die Mächtigen“ noch nicht so weit sind wie man selbst. (Der Fairness halber: ich kenne mich in der friedensbewegten Szene nicht aus, also kann es auch sein, dass gar niemand diese Haltung an den Tag legt, und das ist ein fehlgeleiteter subjektiver Eindruck von mir.)

Ad 4: Einreiseverbote sind so meilenweit von dem entfernt, was eine sinnvolle Reaktion sein könnte, dass zur Beruhigung nochmal ein niedliches Tier ran muss:

Autochthone Flatterulmen im Tagebaurestloch

Vor über 20 Jahren fiel in ziemlicher Eile der Beschluss, die riesigen Tagebaukrater, in die der Braunkohleabbau der DDR ganze Landstriche verwandelt hatte, in irgendeiner Form zu renaturieren. Inzwischen sind in der Lausitz und in Leipzig schon die meisten Seen (fast) fertig, aber das Grundwasser und einige Flüsse sind immer noch weit davon entfernt, in gutem Zustand zu sein.

20 Jahre später, irgendwo in einer Behörde: eine Praktikantin bekommt die Aufgabe, sich mal grundsätzlich zu den unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bergbau- und Wasserbehörden bei der Folgenbewältigung des Braunkohle-Tagebaus kundig zu machen, als da wären: Wiederanstieg des Grundwassers, Versauerung, Renaturierung lieblos umgeleiteter Flüsse u.v.m. Ihr ahnt eventuell schon, wer diese Praktikantin ist. Ich bin ganz fasziniert davon, dass dieses Problem fast so lange besteht, wie ich auf der Welt bin, allerdings ist das eine derartig komplexe Materie, dass man ein Eydeet mit mindestens vier Gehirnen sein müsste, um da den Überblick zu behalten. Erstens gibt es die Regionalplanung, in der übergeordnete Ziele und Grundsätze formuliert werden („Wir hätten gern blühende Landschaften“). Zweitens gibt es die Braunkohlenpläne, die für die einzelnen Tagebaugebiete die Flächen bestimmten Nutzungen zuordnen („Loch fluten, Badestrand anlegen, Gewerbegebiet ausweisen“). Drittens tummeln sich darunter in lustiger Schnittmengenbildung die einzelnen fachgesetzlichen Verfahren zur Genehmigung der erforderlichen Maßnahmen – das Bergrecht hat seine Betriebspläne, im Wasserrecht wird planfestgestellt, Naturschutz und Altlastenbeseitigung wollen auch nicht zu kurz kommen, und zu allem Unglück sind sie auch noch komplett unterschiedlich ausgerichtet. Das Bergrecht zielt auf eine ordentliche Führung und später Abwicklung des Betriebes, das Wasserrecht hingegen dient dem Schutz der Ressource Wasser (surprise), und ist hauptsächlich auf Gewässerbewirtschaftung und Reservenerhaltung zugeschnitten. Zudem ist im Bergrecht das Sächsische Oberbergamt für alles zuständig, während je nach Gewässerart die Gemeinden bzw. die Landestalsperrenverwaltung und deren (Aufsichts-)Behörden sich kümmern. An dieser Stelle verkneife ich mir alle Verweise auf einen gewissen Passierschein, aber mir war vorher nicht klar, wie schwierig es sein kann, für, sagen wir, die Wiederherstellung eines naturnahen Flussbettes nach bergbaubedingter Verlegung auch nur den Zuständigen auszumachen, von der Durchführung und Finanzierung ganz zu schweigen.

Liest bis hierhin noch irgendjemand mit? Wenn ja, entwickelt er oder sie vielleicht sogar ein bisschen Verständnis für meine ambivalente Haltung: ich finde das alles irre spannend. Die letzten Tage habe ich motivierter als bei so mancher Seminararbeit über Braunkohleplänen, Tagungsbänden zu Berg- und Wasserrechtssymposien und Verwaltungsabkommen gebrütet, und auch sonst kann ich mich für die schiere Komplexität und Detailverliebtheit von Verwaltungsverfahren begeistern (es gibt eine DIN-Norm zu korrekten Abständen beim Bäumepflanzen!). Außerdem kann gerade die Öffentlichkeitsbeteiligung eine lustige Sache sein, wenn ein Naturschutzverband fordert, auf einer bestimmten Renaturierungsfläche „autochthone Flatterulmen“ anzusiedeln, und man so seine Kenntnisse über die heimische Flora erweitert. Auf der anderen Seite ist die schiere Regelungslast erdrückend – es gibt zu so ziemlich jedem Gesetzesparagraphen gefühlt mindestens eine Verwaltungsvorschrift, und die Rechtssicherheit, die durch die Regelungsdichte entsteht (oder jedenfalls entstehen soll), wird paradoxerweise mit einem Verlust an Übersichtlichkeit bezahlt, jedenfalls für fachfremde Praktikanten. Und Sachsen rühmt sich schon, eines der Bundesländer mit den wenigsten Normen und Verwaltungsvorschriften zu sein. Außerdem bin ich ja ohnehin kein Fan von übermäßiger Regulierung, deswegen beschleicht mich direkt ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich darüber freue, 175 Seiten Planfeststellungsbeschluss zum Ausbau von ein paar hundert Metern Elbdeich zu lesen. Allerdings ist es das wert, denn das ganze Praktikum hat einen wunderbaren Nebeneffekt: der Stoff fürs Examen kommt mir, verglichen mit den Planungsverfahren, auf einmal so wunderbar unterkomplex vor.