oder: Was ihr noch nie über das Spannungsverhältnis zwischen Grundrechtsgarantien und europäischer Union wissen wolltet und demzufolge auch nicht zu fragen gewagt hättet, anhand zweier wichtiger Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, nämlich „So lange 1 und 2“.
Hier legte das Bundesverfassungsgericht fest, wann und unter welchen Umständen es europäische Vorschriften am Maßstab des Grundgesetzes zu überprüfen gedenkt und wann es das dem EuGH überlässt. Beide Entscheidungen sind aufgrund reichlich planwirtschaftlich anmutender Verordnungen zum Im- und Export diverser Produkte ergangen. In der als „So lange 1“ bekannt gewordenen Entscheidung von 1974 geht es um Maisgrieß. Dessen Ausfuhr bedurfte einer Lizenz, die von der Stellung einer Kaution abhängig war, wogegen sich ein glückloser Exporteur wehrte. Das Verwaltungsgericht reichte Vorlage beim Bundesverfassungsgericht ein, um klären zu lassen, ob die Verpflichtung zur Kautionshinterlegung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sei. Dahinter stand die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt über europarechtliche Normen entscheiden darf – noch dazu am Maßstab des Grundgesetzes-, oder ob für die Auslegung nicht vielmehr der Europäische Gerichtshof zuständig wäre. Das Bundesverfassungsgericht fühlte sich zuständig, und zwar
„Solange [wie] der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist.“
(BVerfG, Beschluss vom 29.05.1974, Az. 2 BvL 52/71)
Mit anderen Worten: solange es auf europäischer Ebene keine gescheiten Grundrechte gibt, darf das Bundesverfassungsgericht sehr wohl darüber entscheiden, ob europarechtliche Normen mit dem Grundgesetz vereinbar sind oder nicht, allein schon, weil der EuGH gar nicht in der Lage ist, das Grundgesetz anzuwenden. Es zog damit die „Kontrollkompetenz“ für europäische Normen an sich, um die Standards des Grundgesetzes auch gegenüber europarechtlichen Vorgaben wahren zu können. Hinsichtlich der Kaution selbst hatte das BVerfG aber keine Bedenken.
Ebenfalls 1974 wurde aufgrund einer von der Komission wahrgenommenen „ernstlichen Störung des Pilzkonservenmarktes“ eine Verordnung erlassen, die (ich erspare euch die Details) zu einem ähnlichen Rechtsstreit wie oben führte, der 1986 beim Bundesverfassungsgericht landete. Diesmal führte es, nachdem es ausgiebig die gewachsenen Grundrechtsstandards in der Europäischen Union würdigte, aus:
Solange die Europäischen Gemeinschaften […] einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist […], wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen […].
(BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986, Az. 2 BvR 197/83)
Man beachte: das Bundesverfassungsgericht verzichtet nur insoweit und so lange darauf, die Kontrollkompetenz auszuüben, wie es der Auffassung ist, dass auf europäischer Ebene ein zufriedenstellender Grundrechtsstandard herrscht, den der EuGH auch durchsetzt. Ein Hintertürchen bleibt damit offen, sollten die Karlsruher Richter das jemals wieder anders sehen.
Eigentlich wäre „1974, als ernstliche Störungen des europäischen Pilzkonservenmarktes drohten, …“ auch ein guter Anfang für eine Kurzgeschichte.