Meine erste „echte“ Gerichtsreportage.
Verstohlene Kusshände und gereckte Daumen empfangen den Angeklagten H., als er den Sitzungssaal betritt. Auf den Zuschauerbänken erwarten ihn seine Mutter und deren Lebensgefährte. Am Gürtel des Wachmannes klirren leise die Handschellen, die er gerade noch getragen hat. Gericht, Verteidiger und Staatsanwalt unterhalten sich halblaut. Man kennt sich bereits. Es ist der zweite Verhandlungstag in der Strafsache H. vor dem Schwurgericht des Landgerichtes Münster. H. wird angeklagt, im September 2013 S. in der Wohnung seiner Exfreundin erstochen zu haben. Totschlag, lautet die Anklage, zu bestrafen mit mindestens 5 Jahren Gefängnis. Bis jetzt hat er nur angegeben, zugestochen zu haben, sich aber an nichts weiter erinnern zu können. Daher geht die umfangreiche Zeugenbefragung weiter.
Der Vorsitzende ruft zuerst die Zeugin K. herein. Sie war eine Freundin des Erstochenen und schildert im dezenten Ruhrpott-Dialekt, was sie von der Tat mitbekommen hat. Der Vorsitzende runzelt leicht die Stirn. Viel ist es nicht. Ob sie in der Nacht der Tat dabei war? Ja, sie und einige andere Freunde hatten sich bei der Exfreundin des Angeklagten getroffen und einiges getrunken. Warum der Angeklagte dazugekommen sei? Er habe seiner Ex ständig SMS geschrieben und sie beleidigt. Irgendwann schrieb ihm jemand, er solle doch herkommen, wenn er Eier in der Hose hätte. Wo sie war, als der Angeklagte ankam? Im Wohnzimmer, die anderen seien runtergegangen, sie habe sich für das Ganze nicht so interessiert, wie kann man denn auch wissen, dass „dat“ so ausgeht. Was sie denn überhaupt mitbekommen habe? Lautes Geschrei aus dem Treppenhaus, das Klirren einer Flasche. Jemand hat den Angeklagten mit einer leeren Whisky-Flasche geschlagen, erfährt sie hinterher von ihren Freunden. Wenig später sah sie, wie Blut unter der Badezimmertür hervorlief.
Der verletzte S. hatte sich ins Bad geschleppt. Obwohl Polizei und Rettungskräfte schnell vor Ort waren, starb er im Krankenhaus an seiner Stichverletzung. Es raschelt und knistert laut, als der Vorsitzende die Tatwaffe aus der Asservatentüte nimmt und die Abdeckung entfernt. Asservat Nr. 11/14, ein 37 Zentimeter langes und 4,2 Zentimeter breites Messer, das dem Angeklagten gehört. Damit soll er auf S. eingestochen haben. Beim Eintreffen der Rettungskräfte war dieser schon nicht mehr ansprechbar. „Er hat die Lippen bewegt, konnte aber nichts mehr sagen“, erklärt der Polizeibeamte E., der als einer der ersten am Tatort war. „Wir haben schon im Treppenhaus eine riesige Blutlache gesehen, und es hieß, der Täter wäre mit dem Auto geflüchtet.“
Wenig später verhafteten dann Streifenbeamte den Angeklagten vor dessen Wohnung. „Wir hatten ja das Kennzeichen“, sagt ein weiterer Polizeibeamter, „und als wir zu der Adresse kamen und das Auto festsetzten, kam da einer mit Bademantel und Schlappen auf die Straße und stellte sich erst mal dumm. Was wir denn hier machen würden.“ Auch sein Kollege H. bestätigt: „Der war sehr gefasst, sehr cool.“ Sehr gefasst ist der Angeklagte auch während der Verhandlung. Er spricht kaum, folgt aufmerksam den Zeugenaussagen. Nur manchmal verdüstern sich seine hellblauen Augen, und sein Kinn spannt sich.
Bei der ersten Vernehmung erzählte er noch, er sei bei einer Bekannten gewesen, bis 2 Uhr, und dann nach Hause gefahren. An mehr könne er sich nicht erinnern, schon gar nicht daran, noch bei seiner Ex gewesen zu sein. Besagte Bekannte, ebenfalls für den heutigen Verhandlungstag geladen, lässt sich entschuldigen. Ein ärztliches Attest, sie leide unter Angststörungen und könne weder ihre Wohnung noch ihren Wohnort Bocholt verlassen. „Aha“, bemerkt der Vorsitzende ungläubig, „dann muss sie also bis an ihr Lebensende in Bocholt bleiben.“ Vor der Polizei hat sie schon eine Aussage gemacht, diese wird verlesen. Die beisitzende Richterin leiht der Bekannten ihre angenehme, etwas monotone Stimme. Die Zeugin ist seit einigen Jahren mit H. bekannt, sie haben eine lose Affäre, treffen sich hin und wieder zum Trinken und zum Sex. Am Abend der Tat war erst sie bei H., dann er bei ihr, er trank viel, rauchte Gras und nahm auch Kokain. Mit steigendem Alkohol- und Drogenpegel begann er, sie zu beschimpfen, sie warf ihn raus.
H. bestreitet nicht, dass er zugestochen hat. Es bleibt aber die Frage offen, ob er sich vielleicht gegen einen Angriff mit der Flasche zur Wehr setzte, und auch, ob er wegen seines Alkohol- und Drogenkonsums überhaupt voll schuldfähig ist. Dazu werden am Freitag die medizinischen Gutachter Stellung nehmen. Der letzte Verhandlungstag ist für den kommenden Montag angesetzt. Was er beantragen werde, wisse er noch nicht genau, sagte der Staatsanwalt. „Bei so einem komplizierten Fall mache ich mir in Ruhe nochmal Gedanken.“
Nach der Verhandlung muss der Angeklagte wieder zurück in die Untersuchungshaft. Er umarmt seine Mutter fest. Dann führt ihn der Wachmann ab. Die Handschellen klirren leise.