Fernweh

Fernweh (III)

Nie wieder verspreche ich, dass ich irgendwas „alsbald“ mache, denn offenbar hat das in wirklich jedem Lebensbereich zur Folge, dass daraus ein „später als erwartet, vielleicht auch gar nicht“ wird. Eine Art unterbewusstes Manana-Syndrom vermutlich, das dringend der Behandlung bedarf. Dringend der Behandlung bedurfte auch meine Lunge, als ich auf der Krim ankam.

Nach einer Nacht in einem stickigen, ungelüfteten, nach Fuß und schlimmeren Sachen riechenden Schlafwagen bietet sich angekommen in Simferopol dem müden Reisenden folgendes Bild:

Simferopol, Bahnhofsvorplatz

Die morgendliche Uhrzeit (4:30 Uhr) hat den Vorteil, dass man nicht allseits von schwatzenden Taxifahrern umringt wird, die einschließlich Moskau, Kiew und Almaty so ziemlich jedes Fahrtziel anbieten. Das wiederum hat den Nachteil, dass man aus Simferopol nicht so schnell wegkommt, denn außer auffallend vielen Freilicht-Sozialismus-Memorabilia gibt es dort nichts.

Lenin, wie er leibt und liest. Ausnahmsweise mal in entspannter Haltung.

Eine halbe Stunde mit der Elektrischka weiter südlich, in Bachtschyssarai, ist der Sozialismus vergessen, stattdessen kann man noch gerade rechtzeitig zum ersten (oder zweiten?) Muezzinruf ankommen und sich, falls man das im Reiseführer überblättert hat, daran erinnern, dass nach der Vertreibung, Deportation und Ermordung der Krimtataren unter Stalin einige wieder aus Usbekistan zurückkehrten. Bachtschyssarai ist das Zentrum der „Neubesiedlung“, da sich hier die Hauptstadt des Krim-Khanats befand, dass allerdings relativ kurzlebig war: einige Mitglieder der Goldenen Horde hatten sich unterwegs abgesetzt, und gerade, als sie sich auf der Krim eingerichtet hatten, gerieten sie auch schon wieder unter osmanische, später russische Vorherrschaft (der aufmerksame Leser erinnert sich an Teil 1). Der Khanspalast blieb trotzdem erhalten, angeblich wegen dieses Brunnens hier:

Der Tränenbrunnen: aller fünf Minuten ein meditatives "Plitsch", und seltener ein "Platsch", wenn eine Schale überfließt.

Den „Tränenbrunnen“ ließ im 18. Jahrhundert Khan Girei errichten, der sich in Trauer um seine Lieblings-Haremsdame verzehrte. Er war allerdings selbst schuld, hatte sie nämlich enthauptet, nachdem sie ihn mit einem gutaussehenden polnischen Kriegsgefangenen betrogen hatte. Nachdem Puschkin „die Fontäne von Bachtschyssarai“ besungen und so zu einem wesentlichen Bestandteil der russischen Romantik gemacht hatte, wird gemunkelt, das selbst Stalin es nicht übers Herz brachte, den Palast abzureißen. Deswegen können ihn  jetzt unablässig russische Touristengruppen besuchen und sich gegenseitig mit Brunnen und Büste fotographieren. Zugegebenermaßen hatte ich während dieses Teils der Krimreise überwiegend schlechte Laune, weil die Bemerkung mit der Lunge oben nicht einfach eine launige Überleitung war, sondern ich mitten im trocken-warmen Klima des „Sanatoriums der Werktätigen“ mit einer fiesen Bronchitis kämpfte. Jedenfalls konnte ich den Tränenbrunnen nicht gebührend würdigen, und die geräuschvolle Auffassung der versammelten Touristen von „Romantik“ auch nicht. Man hörte gar kein sufistisch-meditatives „Plitsch“ bei all den Leuten, die mit Brunnen, Büste oder beidem fotographiert werden wollten und ihren Begleitern diesbezüglich detaillierte Anweisungen gaben.

In Bachtschyssarai gaben sich aber nicht nur Krimtataren, Osmanen und Russen die Klinke in die Hand, auch Karaimer (oder Karäer) und Orthodoxe siedelten im Tal, wobei: die Karaimer siedelten auf der Bergkuppe, und die Orthodoxen gleich im Berg drin.

Blick auf Bachtschyssarai. In den Höhlen wohnten Einsiedler, später die Karaimer oder "Bergjuden", die auf der Bergkuppe über dem Höhlenlabyrinth eine Stadt errichteten.

Von Bachtschyssarai aus kann man, wenn man das möchte, eine Tour nach Sewastopoll machen und sich noch mehr Freilicht-Sozialismus-Memorabilia angucken, außerdem den berühmten russischen Flottenstützpunkt, der aber nicht wirklich spannend ist (Echt nicht. Es sei denn, man steht auf rostige Pötte, die im Hafenbecken herumliegen. Die wirklich spannenden Schiffe sieht man eh nicht.) Man kann aber auch einfach weiter nach Alupka fahren, das ein Stücken westlich von Jalta liegt, und es sich dort einfach mal gut gehen lassen.

Alkohol in seiner vollendetsten Form. Also, finde ich.

Die Krim ist nämlich berühmt für ihre Weine, in erster Linie schwere Dessertweine, die bei uns eher selten bis gar nicht getrunken werden und die, entgegen landläufiger Vorurteile, NICHT süß sind. Also, süß eventuell auch, aber in erster Linie aromatisch, schwer, herb und würzig. Damit man unter den Kombinationen dieser Eigenschaften diejenige rausfinden kann, die am besten mundet, gibt es dort Weinverkostungen, und nach der Verkostung wird man netterweise durch den Shop geschleust, wo dann, der Geldbeutel gelöst durch den Genuss und die reichlich vorhandenen Prozente (und den Kurs des Hryvnia, der zugunsten des Ausländers arbeitet), die eine oder andere Flasche wie von selbst mitkommt.

Und da fangen die Probleme dann an: Alkoholexport aus der Ukraine ist ein schwieriges Ding, die Zollvorschriften ändern sich alle naslang, und übermäßiger Alkoholexport kommt gleich hinter Ikonenklau. So zumindest suggerierte der Reiseführer, was er vergaß, zu erwähnen, war, wie man die geltenden Zollvorschriften herausbekommt. In einem schlechten Jahr sind fünf Flaschen Krimwein pro Nase angeblich schon kritisch, und seinem Heimflug von der Zollstation aus will auch niemand nachblicken. Am Flughafen aber wohnt offensichtlich ein großer Fan Franz Kafkas (insbesondere des Processes), denn um durch den Zoll zu kommen, musste man sein Gepäck bereits aufgegeben haben und dies mit einem Gepäckaufgabebestätigungszettel nachweisen, um sein Gepäck aufzugeben, brauchte man aber die Gepäckdurchsuchungsunbedenklichkeitsbescheinigung vom Zoll. Das Dilemma lies sich am Ende nur durch Ignorieren lösen – Gepäck aufgeben, nicht schuldbewusst gucken, und durch.

Und damit sind wir für heute schon wieder am Ende. Mal sehen, wohin die Reise das nächste Mal geht, aber ich verspreche lieber nichts.

Fernweh (II)

Das "goldene Kind" von Odessa, dessen Fäustchen größer sind als mein Kopf

Dieser Wonneproppen empfängt am „Meeresbahnhof“ in Odessa den staunenden Besucher, der eben noch die berühmte potemkinsche Treppe hinabgestiegen ist und sich nun wundert, wer die grandiose Idee hatte, genau am meeresseitigen Ende der Treppe ein Autohaus zu eröffnen, dahinter die Mole zuzupflastern und genau in den Panoramablick aufs Meer ein 30stöckiges Hotel zu pflanzen. Aber an Bausünden muss sich gewöhnen, wer Zarin Katharinas einstigen Militärhafen besucht, denn in Odessa herrscht Platzmangel, der zum Bau vielstöckiger Hässlichkeiten führt. Die Innenstadt hingegen entschädigt reichlich: eine großzügige Anlage mit breiten, von Platanen und Akazien beschatteten Straßen und hochherrschaftlichen Häusern, von denen überproportional viele renoviert sind.

Ein Traum in Blau-Weiß. Man beachte das liebevoll arrangierte Stromkabel.

Odessa strotzt nur so vor Wohlstand (manifestiert in dicken Autos pro Quadratmeter Parkfläche), Weltoffenheit (manifestiert in Anzahl der gesprochenen Fremdsprachen pro Einwohner) und natürlich Touristen. Die Odessiten gelten gemeinhin als ein ganz eigenes Völkchen, sind sie doch die Nachfahren abenteuerlustiger Siedler, die dem Ruf Zarin Katharinas folgten und lieber mit Sack und Pack ins unbekannte Neurussland zogen, als in ihren Heimatländern bei Armut, Despotismus und Handelsbeschränkungen zu versauern. Ein bisschen despotisch war Katharina zwar auch veranlagt, verfügte aber über eine sehr wichtige Gabe: den richtigen Mann für den richtigen Job auszuwählen. Für ihr Neurussland-Projekt, das als Wiedererstehung des mythischen Tauris´ (das mit Iphigenie, wohlgemerkt) gefeiert wurde, setzte sie Grigorij Potjomkin ein, der innerhalb weniger Jahre die Osmanen vertrieb, befestigte Städte baute und die Besiedlung organisierte. (Für alle, die es noch nicht wissen: das mit den „potemkinschen Dörfern“ ist nichts anderes als die üble Nachrede eines sauertöpfischen deutschen Diplomaten). Für Odessa selbst war jedoch der Herzog von Richelieu zuständig, Urenkel/Großneffe/jedenfallsVerwandter des berühmten Kardinals, der sich derart um den Aufbau der Stadt verdient machte, dass er heute noch am oberen Ende der Treppe die Besucher willkommen heißt:

Tadaa. Leider habe ich kein wirklich schönes Bild der Treppe, da sie entweder von Kärchern, Filmcrews oder ukrainischen Patrioten besetzt war (selbst schuld, wenn man zum nationalen Unabhängigkeitstag dort aufkreuzt), aber sie sieht heute noch genau so aus, nur mit deutlich verwilderterem Park. Aber die beiden Häuser oben sind noch da, und ebenso die Statue Richelieus.

Und nun noch ein bisschen jahrhundertealter Klatsch und Tratsch: Katharina die Große, an der man in dieser Gegend einfach nicht vorbeikommt, was aber deutlich besser ist als die andernorts notorischen Lenin-Statuen, war ja für ihren, sagen wir es nett, sexuellen Appetit bekannt. So schlimm war sie wohl gar nicht, aber sie führte eine dauerhafte „offene Beziehung“ mit Potjomkin, der quasi ihr Mitregent war und den sie womöglich sogar heimlich geheiratet hatte. Heimlich deswegen, weil sie per Staatsstreich ihren eigenen Mann abgesetzt hatte, dann lange Zeit mit ihrem Mitverschwörer Grigorij Orlow liiert war und nicht recht wagte, ihn zu verlassen, weil er die besseren Kontakte zum Militär hatte, und es aus all diesen Gründen für sie politisch unklug gewesen wäre, eine erneute Ehe einzugehen, zumal die alte formal noch galt und sie damit die orthodoxen Gläubigen verärgert hätte. Mehr als so schon, meine ich. Da sie und Potjomkin es aber auf die Dauer auch nicht miteinander aushielten, starke und schwierige Charaktere, die sie wohl waren, blieben sie zwar in enger Verbindung, Katharina erwählte sich aber, ganz im Sinne der seriellen Monogamie, eine Reihe Liebhaber, von denen sie sich abseits der Staatsgeschäfte echte Zuwendung und reine Harmonie erhoffte, die sich aber in unterschiedlichen Graden als treulos oder machtgierig erwiesen, und der eine, der es nicht tat, erlag einer Krankheit. Dennoch legte Potjomkin ihr gewissermaßen Neurussland als Zeichen seiner Ergebenheit zu Füßen, blieb engster Berater der Zarin und erhielt freien Zugang zum Staatsschatz, den er unter anderem in seinen verschwenderischen Lebensstil investierte. Und in den Bau einer heute noch sehenswerten Stadt.

Oben Katharina, vorn Potjomkin. Links, kaum erkennbar, Platon Subow, Generalgouverneur vom Neurussland und Katharinas letzter Lover, rechts Jose de Ribas, der die Osmanen verjagte und ersters Oberbürgermeister wurde, hinten (nicht sichtbar) der Ingenieur und Architekt Franz de Volan.

Und damit keiner denkt, in Odessa gäbe es nur staatstragende Denkmäler:

Dem unbekannten Papierfliegerbastler

Dem unbekannten Papierfliegerbastler

Krim und Alkoholschmuggel müssen heute aus Zeitgründen leider entfallen, werden aber alsbald  nachgeholt.

Fernweh (I)

Einer der Nebeneffekte, wenn man versucht, sich an sechs Stunden Lernen pro Tag zu gewöhnen, ist, neben Rückenschmerzen vom vielen Sitzen, der deprimierende Gedanke, dass ich in diesem Jahr keinen Urlaub mehr kriege. Anstatt wie in den beiden letzten Jahren in der Ukraine auf Erkundungstour zu gehen, entdecke ich nur Wissenslücken, dafür immerhin solche von der Größe Australiens. Und mit jeder neu entdeckten Wissenslücke wächst der Fluchtreflex. Zum Beispiel wäre ich gern wieder in Krakau, wo es neben dem fabelhaft warmen und trockenen galizischen Sommer eine der besten Chocolaterien überhaupt gibt:

Ein erfolgreicher Besuch bei Wedel auf dem Marktplatz

Nicht zu verachten sind auch die nächtlichen Feuershows:

Von Krakau reist es sich dann gut weiter nach Lemberg, wo es jede Menge barocke und sonstige Kirchen gibt, wo man sich schonmal an die in der Ukraine allgegenwärtige Mischung aus hochherrschaftlicher Bausubstanz, gemäßigtem Verfall und Werbung in schreienden Farben gewöhnen kann. Außerdem an die allgegenwärtigen Statuen des Nationaldichters Taras Schewtschenko, an das Bedürfnis, dringend dieses oder jenes Jugendstilhaus kaufen und renovieren zu wollen, und, zumindest die des Ukrainischen nicht Mächtigen, an diverse Verständigungsprobleme, wobei so nahe der Grenze Polnisch zumindest verstanden wird, jedenfalls bekam ich beim Einkaufen immer das Richtige.

Der Lemberger Marktplatz

Bei der Gelegenheit empfiehlt sich ein Abstecher nach Brody, Germanisten und interessierten Laien bekannt als Geburtsstadt Joseph Roths, die genau so im Nirgendwo liegt, wie ich es mir beim Lesen von „Radetzkymarsch“ immer vorgestellt habe: 18 Stunden Zugfahrt, die „letzte östliche Bahnstation der Monarchie“, auf deren geräumigem Ringplatz sich immer noch die zwei großen Straßen kreuzen, von denen die eine von der Schlossruine zur Dampfmühle führt (auch wenn die Runie noch ruiniger ist als zu Roths Zeiten und die Dampfmühle gar nicht mehr da), und die andere vom Bahnhof zum Friedhof. Einem jüdischen Friedhof, wohlgemerkt, den die damals prosperierende Broder Gemeinde irgendwann am Anfang des 20. Jahrhunderts erworben hat, ein riesiges Areal, dessen größten Teil sie nie gebraucht hat. Dieses Friedhofsgelände ist einer der melancholischsten und deprimierendsten Orte, die ich jemals besucht habe, denn wenn man an all diejenigen denkt, die friedlich dort in der Erde ruhen sollten, wo jetzt Wildwuchs herrscht, bekommt das Celansche „Grab in den Lüften“ eine völlig neue Bedeutung.

Wer sich dann traut, kann von Brody aus mit Überlandbussen, auf deren Dach in der prallen Sonne die Gasflaschen festgezurrt sind, weiterfahren, zum Beispiel Richtung Czernowitz am Rande der Karpaten, wo Paul Antschel, später Celan, herstammt. Czernowitz zu fotographieren ist tendenziell sinnlos, da die Stadt, auf einem Hügel mitten in der Ebene gelegen, vor allem in der langen Dämmerung in einem ganz besonderen Licht schwimmt, dass ich so noch nirgendwo gesehen habe und das vielleicht auch den gern kolportierten Ausspruch erklärt, in Czernowitz seien die Bürgersteige nur mit Rosen gekehrt worden.

Nur ein blasser Abglanz der langen Czernowitzer Dämmerung

Reist man von da aus östlich und knickt dann mit der ukrainisch-moldawischen Grenze nach Süden Richtung Schwarzes Meer, muss man unweigerlich durch die Steppe. Hier endet die West-Ukraine, die wahlweise zu Polen oder Österreich-Ungarn gehörte, und, man möge es mir verzeichen, aber die asiatischen Steppen fangen da schon an. Ein ganzer Landstrich wurde besiedelt, von den Osmanen erobert, zurückerobert, zurück-zurückerobert, bis Kaiserin Katharina die Große das damalige „Neurussland“ gründlich unter russische Herrschaft brachte und die Osmanen aus diesem Gebiet vertrieb.

Die Peter-und-Paul-Kathedrale in Kamjanec-Podilsky: von den Osmanen erobert, mit Minarett versehen, und bei der Zurückeroberung pflanzte man einfach eine Madonna oben aufs Minarett drauf. Das nenn ich mal beiderseitige architektonische Gehässigkeit.

Aber wir wollten ja ans Schwarze Meer. In der nächsten Folge: ein außerordentlich dickes Kind in Klein-New York, warum man den Osten der Halbinsel Krim tunlichst meiden sollte und was Kafka mit Alkoholschmuggel zu tun hat.