Rechtsstaat

Krumme Hölzer

Bei der FAZ war vor einiger Zeit ein interessanter Artikel zum Gegensatz zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, der mir ganz vorzüglich als gedanklicher Steinbruch zu einigen Aspekten von Herrschaft, Demokratie und Verwaltung taugte. Um es gleich vorwegzunehmen: der Verfasser Prof. Dr. Rudolf Steinberg ist kein Fan der direkten Demokratie, und mit  Namedropping Verweisen auf seine Belesenheit steigt er ideengeschichtlich ein:

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Seufz.

Vermutlich ärgere ich mich viel zu oft und viel zu ausgiebig über Journalisten, die es mit Gesetzen und überhaupt dem ganzen Rechtskram nicht so haben. Ich will dann immer lange, unsachliche, vorwurfsvolle Artikel voller polemischer Seitenhiebe abfassen, aber wenn ich es schaffe, mich bis zum nächsten Tag zu beherrschen, ist es mir dann in der Regel die Mühe nicht wert. In der vergangenen Woche musste ich mich gleich zweimal heftig zusammenreißen, aber mir ist es auch jetzt noch die Mühe wert (oder ich bin leicht zwangsgestört), deswegen:

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Um Leben, Tod und den Rechtsstaat (Nein, eine Nummer kleiner haben wir´s heute nicht. Und kürzer auch nicht.)

„Wie weit darf man gehen, um das Leben eines Kindes zu retten?“ fragt Ortwin Ennigkeit im Untertitel seines Buches „Um Leben und Tod“, dass er über die Entführung Jakob von Metzlers geschrieben hat, und vor allem über seine Rolle bei den Ermittlungen. Da ich mich hier schon mal mit der ganzen Vehemenz des behüteten Akademikerdaseins zu genau dieser Frage geäußert habe, war ich neugierig auf Herrn Ennigkeits Sicht der Dinge, zumal er es war, und nicht Wolfgang Daschner, wie ich irrtümlich geschrieben hatte, der androhte, dem Entführer Schmerzen zuzufügen, würde er nicht den Aufenthaltsort des Kindes verraten.

Zu diesem Zeitpunkt war Jakob seit über drei Tagen verschwunden – es war Herbst, und die Ermittler befüchteten das Schlimmste: Jakob versteckt in einem Erdloch, Jakob unterkühlt und eingesperrt in einer Hütte, Jakob verletzt und hilflos irgendwo im Wald. Unterdessen hatte man zwar seinen Entführer bereits verhaftet und verhört, aber, wie es einer der Ermittler zusammenfasste: „Wir unterhielten uns, und er log.“ Irgendwann gingen den Polizisten die Ideen aus, und aus ähnlichen Fällen wussten sie, das Entführungsopfer nicht selten qualvoll in ihrem Versteck eingesperrt sterben, weil selbst gefasste Verbrecher noch verstockt schweigen. Die Anspannung und Hilflosigkeit der Beamten sind während der Lektüre beinahe mit den Händen zu greifen, und zu jedem Zeitpunkt ist nachvollziehbar, wie sie zu der Entscheidung gelangten, es mit der Androhung körperlicher Schmerzen zu versuchen.

Das Buch erschöpft sich allerdings nicht in der Protokollierung der Ereignisse, sondern Herr Ennigkeit stellt auch ausführlich dar, warum seiner Ansicht nach die Drohung nicht nur meilenweit von allem, was man gemeinhin als Folter bezeichnet, entfernt ist, sondern sogar notwendig und geboten war. Und auch wenn ich verstehe, warum er das so sieht, und ihn dafür auch nicht verurteilen will (dafür halte ich es für viel zu wahrscheinlich, dass ich schon ein paar Stunden früher zum Eispickel gegriffen hätte), bin ich in ein paar Punkten anderer Ansicht.

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Autochthone Flatterulmen im Tagebaurestloch

Vor über 20 Jahren fiel in ziemlicher Eile der Beschluss, die riesigen Tagebaukrater, in die der Braunkohleabbau der DDR ganze Landstriche verwandelt hatte, in irgendeiner Form zu renaturieren. Inzwischen sind in der Lausitz und in Leipzig schon die meisten Seen (fast) fertig, aber das Grundwasser und einige Flüsse sind immer noch weit davon entfernt, in gutem Zustand zu sein.

20 Jahre später, irgendwo in einer Behörde: eine Praktikantin bekommt die Aufgabe, sich mal grundsätzlich zu den unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bergbau- und Wasserbehörden bei der Folgenbewältigung des Braunkohle-Tagebaus kundig zu machen, als da wären: Wiederanstieg des Grundwassers, Versauerung, Renaturierung lieblos umgeleiteter Flüsse u.v.m. Ihr ahnt eventuell schon, wer diese Praktikantin ist. Ich bin ganz fasziniert davon, dass dieses Problem fast so lange besteht, wie ich auf der Welt bin, allerdings ist das eine derartig komplexe Materie, dass man ein Eydeet mit mindestens vier Gehirnen sein müsste, um da den Überblick zu behalten. Erstens gibt es die Regionalplanung, in der übergeordnete Ziele und Grundsätze formuliert werden („Wir hätten gern blühende Landschaften“). Zweitens gibt es die Braunkohlenpläne, die für die einzelnen Tagebaugebiete die Flächen bestimmten Nutzungen zuordnen („Loch fluten, Badestrand anlegen, Gewerbegebiet ausweisen“). Drittens tummeln sich darunter in lustiger Schnittmengenbildung die einzelnen fachgesetzlichen Verfahren zur Genehmigung der erforderlichen Maßnahmen – das Bergrecht hat seine Betriebspläne, im Wasserrecht wird planfestgestellt, Naturschutz und Altlastenbeseitigung wollen auch nicht zu kurz kommen, und zu allem Unglück sind sie auch noch komplett unterschiedlich ausgerichtet. Das Bergrecht zielt auf eine ordentliche Führung und später Abwicklung des Betriebes, das Wasserrecht hingegen dient dem Schutz der Ressource Wasser (surprise), und ist hauptsächlich auf Gewässerbewirtschaftung und Reservenerhaltung zugeschnitten. Zudem ist im Bergrecht das Sächsische Oberbergamt für alles zuständig, während je nach Gewässerart die Gemeinden bzw. die Landestalsperrenverwaltung und deren (Aufsichts-)Behörden sich kümmern. An dieser Stelle verkneife ich mir alle Verweise auf einen gewissen Passierschein, aber mir war vorher nicht klar, wie schwierig es sein kann, für, sagen wir, die Wiederherstellung eines naturnahen Flussbettes nach bergbaubedingter Verlegung auch nur den Zuständigen auszumachen, von der Durchführung und Finanzierung ganz zu schweigen.

Liest bis hierhin noch irgendjemand mit? Wenn ja, entwickelt er oder sie vielleicht sogar ein bisschen Verständnis für meine ambivalente Haltung: ich finde das alles irre spannend. Die letzten Tage habe ich motivierter als bei so mancher Seminararbeit über Braunkohleplänen, Tagungsbänden zu Berg- und Wasserrechtssymposien und Verwaltungsabkommen gebrütet, und auch sonst kann ich mich für die schiere Komplexität und Detailverliebtheit von Verwaltungsverfahren begeistern (es gibt eine DIN-Norm zu korrekten Abständen beim Bäumepflanzen!). Außerdem kann gerade die Öffentlichkeitsbeteiligung eine lustige Sache sein, wenn ein Naturschutzverband fordert, auf einer bestimmten Renaturierungsfläche „autochthone Flatterulmen“ anzusiedeln, und man so seine Kenntnisse über die heimische Flora erweitert. Auf der anderen Seite ist die schiere Regelungslast erdrückend – es gibt zu so ziemlich jedem Gesetzesparagraphen gefühlt mindestens eine Verwaltungsvorschrift, und die Rechtssicherheit, die durch die Regelungsdichte entsteht (oder jedenfalls entstehen soll), wird paradoxerweise mit einem Verlust an Übersichtlichkeit bezahlt, jedenfalls für fachfremde Praktikanten. Und Sachsen rühmt sich schon, eines der Bundesländer mit den wenigsten Normen und Verwaltungsvorschriften zu sein. Außerdem bin ich ja ohnehin kein Fan von übermäßiger Regulierung, deswegen beschleicht mich direkt ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich darüber freue, 175 Seiten Planfeststellungsbeschluss zum Ausbau von ein paar hundert Metern Elbdeich zu lesen. Allerdings ist es das wert, denn das ganze Praktikum hat einen wunderbaren Nebeneffekt: der Stoff fürs Examen kommt mir, verglichen mit den Planungsverfahren, auf einmal so wunderbar unterkomplex vor.

Die tun nix, die wollen nur spielen

Sportunterricht in der Schule habe ich allergrößtenteils gehasst, hauptsächlich weil ich für die meisten Sachen zu langsam/ungeschickt/wenig teamfähig war. Was ich allerdings immer ganz lustig fand, war Völkerball. Kennt ihr sicherlich: zwei Mannschaften stehen sich gegenüber und versuchen, mittels eines Balls die jeweils anderen abzuschießen. Die Getroffenen wechseln in ein Außenfeld um das ihrer Gegner und schießen weiterhin fleißig mit ab. Allerdings wird in den Schulen wohl nicht mehr lange Völkerball gespielt werden: das Bundesverwaltungsgericht findet nämlich, dass Spiele gegen die Menschenwürde verstoßen, wenn sie nach ihren Regeln darauf angelegt sind,

dass nicht nur auf fest installierte Ziele, sondern auch und gerade auf Menschen “geschossen” werde und damit Tötungshandlungen simuliert würden. […] Die Spieler würden so zu kriegsähnlichen, nahkampfgleichen Verhaltensmustern gezwungen.

Das „Abschießen“ mit dem Ball simuliert ja nun mal ganz eindeutig eine Tötungshandlung. Und man möchte ergänzen: das führt nicht nur zu nahkampfgleichen Verhaltensmustern, die Spieler üben auch noch, allein schon durch die Namensgebung, völkerrechtswidrige Handlungen ein. Das dürfte dann dazu führen, dass bei ihnen

eine Einstellung erzeugt oder verstärkt wird, die den fundamentalen Wert- und Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt. […] Demnach ist ein […] Unterhaltungsspiel, das auf die Identifikation der Spielteilnehmer mit der Gewaltausübung gegen Menschen angelegt ist und ihnen die lustvolle Teilnahme an derartigen – wenn auch nur fiktiven – Handlungen ermöglichen soll, wegen der ihm innewohnenden Tendenz zur Bejahung oder zumindest Bagatellisierung der Gewalt und wegen der möglichen Auswirkungen einer solchen Tendenz auf die allgemeinen Wertvorstellungen und das Verhalten in der Gesellschaft mit der verfassungsrechtlichen Menschenwürdegarantie unvereinbar.

Wer schonmal eine Horde Grundschüler beim Völkerball beoachtet und die fröhlich-unbekümmerten „Du bist tot!“-Rufe gehört hat, der wird dem Gericht sofort zustimmen, dass die Tendenzen, die die Kinder da erlernen, eindeutig Gewalt bagatellisieren. Die werden dann später mal zu Menschen, die wir nicht auf unsere Gesellschaft und unsere Wertevorstellungen loslassen wollen.

Nee. Moment mal. In der zitierten Entscheidung geht´s ja gar nicht um Völkerball, sondern um Laserdromes. Geben wir dem Gericht mal zu, dass da die Gewaltdarstellung in der Tat auf einem weit niedrigeren Abstraktionsniveau simuliert wird, die Teilnehmer martialischer ausgestattet sind und statt Softbällen Plastikwaffen tragen. Macht das alles aber schon den Unterschied zwischen einem harmlosen Sportvergnügen und einer Menschenwürdeverletzung? Gerade der Fokus auf das „spielerische Töten“, so das Gericht, ließe mangelnden Respekt

vor der Individualität, Identität und Integrität der menschlichen Persönlichkeit

erkennen, und führe zu einer Trivialisierung und Banalisierung dieser Rechtsgüter. Schauen wir uns das mal von der anderen Seite aus an: Erwachsene Menschen befinden sich in einer abgeschlossenen Spielhallte oder auf einem abgegrenzten Spielfeld, es muss sich also keiner etwas angucken, was er nicht sehen will. Sie gehen freiwillig dahin und zahlen sogar noch Eintritt dafür, dass sie sich eine Weile lang gegenseitig belauern und mit Laserpistolen beschießen dürfen. Das Ganze passiert auf Augenhöhe, die Teams stehen sich gleichwertig gegenüber, niemand wird „gejagt“ oder sonstwie zum Opfer, und innerhalb des Teams kann man prima Zusammenhalt, Solidarität und dergleichen mehr einüben. Am Ende kommen sie wieder raus, hatten einen lustigen Nachmittag und sind aller Wahrscheinlichkeit nach immer noch Freunde, oder sogar etwas bessere. Und jetzt alle:

Die Freiwilligkeit der Teilnahme sowie das gegenseitige Einvernehmen der Spieler ist rechtlich unerheblich, weil die aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG herzuleitende Wertordnung der Verfassung nicht im Rahmen eines Unterhaltungsspiels zur Disposition steht.

Sobald einmal die Menschenwürde im Spiel ist, sind alle anderen Einwände hinfällig, auch die Berufsfreiheit des Anbieters oder die allgemeine Handlungsfreiheit der Spieler. Mit so einem Instrument sollte man sehr, sehr zurückhaltend umgehen – und zudem noch ein bisschen Demut walten lassen, weil auch nach Jahrzehnten angeregten Gedankenaustausches nicht so ganz klar ist, was denn nun damit gemeint ist. Laut Bundesverfassungsgericht der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen, der es verbietet, ihn zum bloßen Objekt zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die prinzipiell seine Subjektqualität infrage stellt, worin auch eine „Würde des Menschen als Gattungswesen“ einbezogen wird. Allerdings scheinen konservative Zeitgenossen (ich behaupte jetzt mal kühn, dass man dazu auch Verwaltungsrichter zählen kann) einen völlig anderen Blick darauf zu haben – ein Spiel, dass sie doof finden, ist gleich gattungswürdewidrig. Ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Sportspiele, wie das oben erwähnte Völkerball, aus ritualisierten Kriegs- oder Tötungshandlungen entstanden sind und sich Laserdrome, Paintball und Co relativ nahtlos in die Tradition einreihen, gewalttätige Konflikte innerhalb eines festgesetzten Rahmens und sozialer Zusammenhänge zu bändigen. Zwar sind die Vorbilder für Laserdromes existente moderne Tötungsarten, während Säbelmorde heutzutage eher selten vorkommen, dennoch ist die Verfremdung stark genug, um es eben als Spiel erscheinen zu lassen und nicht als eine Art Häuserkampftraining. Oder, wie es das OVG Lüneburg ausdrückt (Rn. 77), von dem sich das BVerwG überhaupt eine dicke Scheibe abschneiden sollte:

Der Lebenserwartung käme es wohl kaum zugute, wenn man sich mit den dort eingeübten Verhaltensweisen in einen Häuserkampf oder eine sonstige bewaffnete Auseinandersetzung begäbe.

Abgesehen davon ist bei jeder schlagenden Verbindung mit wesentlich ernsthafteren Verletzungen zu rechnen. Und schlussenendlich spielt sowas Kleinliches wie Zusammenhänge bei Begründungen eine entscheidende Rolle. Als ich das letzte Mal eine Vorlesung in Medienwirkungsforschung besucht habe, war eine Kausalität zwischen dem Spielen gewalttätiger Spiele und tatsächlichen Gewaltausbrüchen immer noch nicht empirisch belegt. Wer sich schon so paternalistisch gibt, dass er etwas verbieten will, was alle Beteiligten freiwillig machen und wobei niemand zu Schaden kommt, der sollte sich etwas Besseres einfallen lassen, als die eher diffusen „möglichen Auswirkungen auf die allgemeinen Wertevorstellungen“. Offenbar nehmen hier ein paar Leute ihre eigenen Wertevorstellungen als repräsentativ für den Rest der Gesellschaft an und nutzen die Menschenwürde schlicht als Gängelband. Und bei aller Unklarheit, aber dafür ist sie definitiv nicht da.

52 Bücher, Woche 13: Monster

Wer mit Fellmonstern spielt, der muss früher oder später damit rechnen, dass etwas Monströses passiert, und demzufolge lautet das Bücherthema heute Monster.  Meine allererste Assoziation hat besagtes Fellmonster auch gehabt, und deswegen kann ich hier nicht über Christian Mosers „Monster des Alltags“ schreiben, was eigentlich ganz gut gepasst hätte, da ich nach den doch eher schwermütigen Kinderbüchern wieder was Heiteres bringen wollte. Allerdings ist mir heute insgesamt nicht besonders heiter zumute, ich fürchte, da müsst ihr nochmal durch eine düstere Lektüre durch.

Als Zweites fiel mir die typische Assoziation Monster –> Psychopathen, Massenmörder u. dergl. ein. Über Jean-Baptiste Grenouille habe ich hier schon kurz geschrieben, aber da der ziemlich glatt als Monster durchgeht, wäre das zu einfach. Dann sinnierte ich vor dem Bücherregal eine Weile über einer Stalin-Biographie, der ich mich dann doch nicht gewachsen fühlte. Und dann lächelte mich aus einer dunklen Ecke des Bücherregals ein Band mit schwarzem Rücken und einem weißen „M“ wissend an, und ich hatte mein Monster für heute: ein Remake von Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ als Graphic Novel, bearbeitet von Jon J Muth mit einem unglaublichen Aufwand: die Rollen wurden mit Freunden, Anghörigen oder Fremden neu besetzt, die Szenen fotographiert, die Fotos als Skizzengrundlage verwendet und mit Silberstift, Holzkohle, Graphit, Pastell- und Ölfarben nachbearbeitet.

„Während ich zeichnete und malte, passierte etwas Interessantes. Egal welches Gefühl ein Foto hervorrief, jedesmal, wenn ich es als Zeichnung umsetzte, evozierte die Zeichnung eine andere Bandbreite an Emotionen als das Foto. […] Die vorherrschende Stimmung des Bandes ist von Trauer, Verlust und Sehnsucht gekennzeichnet. Das war eine Entdeckung, und nicht meine Absicht.“

schreibt der Autor im Nachwort, wobei Trauer, Verlust und Sehnsucht wohl adäquat sind, wenn es um einen derartig harten Tobak von einer Geschichte geht. In einer großen Stadt, in der die Leute „Icke“ sagen, und „Jören“, verschwindet Elise Beckmann. Den Fremden, der ihr einen Luftballon schenkt, bekommen wir nicht zu Gesicht, dafür ihre Mutter, die mit dem Abendessen vergeblich auf sie wartet. Elsie ist nicht das einzige Kind, das verschwindet, die Bevölkerung gerät in Hysterie, und die täglichen Razzien der Polizei verderben den Unterweltbossen, der „Ringorganisation“, die Geschäfte, sehr zum Ärger ihres Vorsitzenden, des Schränkers. „Wir üben unseren Beruf aus, weil wir existieren müssen. Aber diese Bestie hat kein Recht zu existieren. Die muss weg!“, sagt ein anderer. Mithilfe der Bettler überwachen sie die Stadt, und ein blinder Luftballonverkäufer gibt schließlich den entscheidenden Hinweis (der Mörder, Hans Becker, pfeift immer diesselbe Melodie). Dank eines weißen „M“ auf dem Rücken können ihn die Häscher der Unterwelt schließlich in einem leerstehenden Bürogebäude in die Enge treiben, fangen und ihm einen Prozess mit von vornherein klarem Ausgang machen, während die Polizei mit etwas rechtsstaatlicheren Methoden ihren Ermittlungsrückstand langsam aufholt.

In der an sich nicht allzu komplizierten Geschichte steckt jede Menge, darunter auch eines meiner Lieblingsthemen, über das ich anlässlich Herrn Gs. schon mal geschrieben habe: auch Mörder, auch Kindesmörder, von Boulevard-Medien und in Kommentarspalten gern „Monster“ o.ä. genannt, haben ein Recht auf einen fairen Prozess. Hans Becker gesteht vor der versammelten Unter- und Halbwelt, dass er morden muss, dem Drang gar nicht entkommen kann: „Es ist einer hinter mir her… lautlos. Das bin ich selber! […] Und mit mir rennen die Gespenster. Gespenster von Müttern. Von Kindern. Die geh´n nie mehr weg. […] Wie ich´s tun muss! Will nicht! Muss! Will nicht!“ Das heißt nicht, dass er frei sein darf, oder, wie sein Verteidiger es so schön sagt: „Einen kranken Menschen übergibt man nicht dem Henker, man übergibt ihn dem Arzt.“ (Oder der Sicherungsverwahrung.) Er wird allerdings von einer aufgebrachten Meute niedergeschrien. Kurz bevor es zum Lynchmord kommt, wird Becker von Kommissar Lohmann gerettet. Im Film erhält er dann von der „regulären“ Justiz das Todesurteil, in einer überarbeiteten Fassung und auch in der Graphic Novel endet die Geschichte ohne Urteilsverkündung mit der lapidaren Feststellung „Man muss halt auf die Kleinen besser aufpassen.“

Jon J Muth (und, ich nehme mal an, auch Fritz Lang, den Film muss ich erst noch gucken) zeigen detailreicher, als ich es jetzt hier ausführen kann, alle Facetten: das Leid der Mütter, die fieberhafte Suche der Polizei, die Wut der Gangster. Die Hoffnung des Lesers, Becker möge endlich gefasst werden, schlägt plötzlich um, der Schränker, dem es vor allem um seine Geschäfte geht, schwingt sich zum Herrn über Leben und Tod auf und der Kommissar kommt „gerade noch rechtzeitig“ für jemanden, für den wir eigentlich keinerlei Sympathie empfinden. Wofür das M steht – Mörder, Monster, oder doch Mensch- , muss jeder selbst entscheiden.

Herr G.

Herrn G. kenne ich seit einer Hausarbeit im Strafrecht, und auch wenn ich ihm nie begegnet bin, weiß ich einiges über ihn: dass er 2002 ein Kind entführt und getötet hat, die Eltern aber im Glauben ließ, es lebe noch, um 1 Million Euro Lösegeld zu kommen. Dass er von der Polizei nach der Geldübergabe gefasst wurde, sich aber weigerte, den Aufenthaltsort des Kindes preiszugeben. Dass Herr D., der zuständige Kommissar, irgendwann vermutlich die Nerven verlor und drohte, er werde ihm von einem eigens dazu ausgebildeten Experten Schmerzen zufügen lassen, die „unvorstellbar“ seien. Dass Herr G., dem es nicht schwerfiel, ein Kind zu töten, plötzlich Angst um seine Haut bekam und das Versteck verriet, wo die Polizei nur noch eine Leiche fand.

Gestern nun bekam Herr G., der sich aufgrund der Drohung des Herrn D. „psychischen Spätfolgen“ ausgesetzt sah, vom Landgericht Frankfurt eine Entschädigung zugesprochen (Muriel hat dazu in Kurzfassung auch schon das Wesentliche gesagt). Ich fasse mich hingegen etwas länger, weil ich nämlich diese Hausarbeit damals unter Zähneknirschen und langen, heftigen Diskussionen mit anderen und mir selbst verfasst habe und mich jetzt ein klein wenig bestätigt sehe. Witzigerweise kommt das Landgericht Frankfurt zu denselben Ergebnissen wie ich damals, nämlich das die Drohung rechtswidrig und verwerflich war, und beim Lesen der Kommentare zum FAZ-Artikel habe ich gerade fast meine Tischkante durchgebissen:

„Hier hat man eine Passage zwar wohl korrekt angewendet- damit aber das Recht eines Kindes auf Leben weit unter das Recht eines Mörders auf eine psychologisch korrekte Befragung gestellt.“

„Dann wären alle diese Spielchen mit der Justiz durch nichts zu bremsen – es sei denn, die Gerichte würden ihm einen Strich durch die Rechnung machen und seine Anträge rigoros ablehnen. Aber es ist zu befürchten, dass unser gepriesener Rechtsstaat auch da einknicken wird.“

„Das Recht auf Freiheit kann z.B. eingeschränkt werden, ist also kein absoluter Inhalt des GG. Dasselbe muss mit der Folter geschehen! Das Beispiel Gäfgen zeigt (jedenfalls für meine „Weisheit“), dass das absolute Folterverbot in Gegensatz zum Lebensrecht eines anderen stehen kann. Es ist schlicht falsch, denn, das behaupte ich: Es steht im Gegensatz zur moralischen Einsicht JEDES Menschen, der einen Fall wie diesen besonnen betrachtet.“

„Sich dermaßen schützend vor dieses Nichtindividuum zu stellen ist Hohn, Zynismus und Arroganz den Angehörigen des Opfers gegenüber. Habe ich schon seit längerer Zeit das Empfinden, daß die Wahrnehmung unserer Politiker mit meiner Weltanschauung kollidieren, so habe ich ab heute den letzten Millimeter Vertrauen in unsere Rechtssprechung verloren. Ich schäme mich für dieses Rechtsempfinden, was ausschließlich die Täter schützen soll.“

Wir vergessen bitte mal kurz, dass wir eine Verfassung haben. Wir vergessen bitte weiterhin, dass sich darin die Artikel 103 und 104 finden, die die Rechte Beschuldigter im Verfahren regeln, und vor allem ignorieren wir Artikel 104 I S.2. Wir vergessen deren einfachgesetzliche Ausgestaltung in § 136a StPO, der ausdrücklich und für jedermann lesbar die Androhung von Misshandlungen verbietet, und zu guter Letzt vergessen wir Artikel 1 der Verfassung, der „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ an die Menschenwürde bindet. Und wie wir das bei Orwell im „Doppeldenk“ gelernt haben, vergessen wir, was wir da eben vergessen haben, und dann, dann können wir sorglos solche Kommentare verfassen.

Herr G. sitzt im Gefängnis, und da wird er auch lange bleiben. Er ist rechtskräftig verurteilt, einen Menschen ermordet zu haben, das ändert aber nichts daran, dass er mit Methoden befragt wurde, die sich außerhalb dessen bewegen, was die Verfahrensvorschriften und auch die Verfassung für eine Befragung zulassen (dort steht nicht: „Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden, solange sie nichts allzu Schlimmes gemacht haben.“) Herr G. wurde also zumindest durch Nötigung in seiner Entschließungsfreiheit beeinträchtigt, und das ist genauso ein Rechtsgut wie alle anderen auch. Herr G. weiß das, denn er hat Jura studiert, und er weiß auch, im Gegensatz zu dem aufgebrachten Mob den FAZ-Kommentatoren, dass die Justiz nüchtern nach der Rechtslage entscheidet, und nicht nach Emotionen. Er bekommt keinen Ausgleich dafür, dass er ein Mörder ist oder dafür, dass er verurteilt wurde, sondern dafür, dass in seinem Verfahren etwas nicht so gelaufen ist, wie es sollte. Wenn eine Regel, die dem Schutz des Beschuldigten dient (denn auch solche haben Menschenwürde, die spricht ihnen keiner erst zu), gebrochen wird, dann verlangt das nach einer Sanktion, denn offensichtlich passiert dann etwas, was die Rechtsordnung grundsätzlich missbilligt. Und das ganze Ding heißt nicht Rechtsstaat, damit sich alle gut fühlen, sondern damit jeder, vom Vorzeigebürger bis zum miesesten Kriminellen, darauf vertrauen darf, nach allgemein gültigen Regeln behandelt zu werden, die nicht disponibel sind, weder im Positiven noch im Negativen. Dass es bei deren Umsetzung hapert, dass die Justiz auf diversen Augen manchmal blind ist und es bisweilen Urteile gibt, die irgendwie zwischen absurd und empörend changieren, streite ich nicht ab. Dass es aber nicht an der Justiz ist, ein moralisches Urteil zu fällen, sondern nur die Rechtslage zu beurteilen, kann man gar nicht oft genug sagen.

Und dass Herr G. schwer einen Knick weg haben muss, wenn er ein Kind umbringt, sich dann aber beschwert, dass man ihm wehtun wollte, ist eine andere Frage, die nicht das Recht zu klären hat. Genauso wie es Herrn D. unbenommen bleibt, sich über das Folterverbot hinwegzusetzen – er kann die Strafe in Kauf nehmen, und ich persönlich würde es vielleicht genauso machen. Aber ein Rechtsstaat kann doch nicht damit anfangen, Ausnahmen von seinem vornehmsten Verfassungsgrundsatz zu machen, und auch wenn ich kein großer Fan von Dammbruchargumenten bin: Wann fangen wir an zu foltern, und wann hören wir wieder auf? Beim Terroristen, der ein vollbesetzes Stadion sprengen will? Beim Entführer, dessen Opfer möglicherweise irgendwo in einer Waldhütte erfriert? Beim millionenschweren Steuerhinterzieher? Beim Hacker, der nicht verraten will, wie man den Wurm stoppt, den er ins Kanzleramt eingeschleust hat, und der jetzt immer Hitlervergleiche in die Pressemitteilungen einbaut?

Was mich am meisten erschreckt, ist der große Anteil der Zeitgenossen, die viele dieser Fragen mit „Ja“ beantworten würden. Als sei Folter überhaupt ein effektives Instrument – man drückt auf den Knopf, und schon kommt die gewünschte Information. „Intensiver nachfragen“, dass ich nicht lache, Herr Witthaut. Seien Sie wenigstens ehrlich und nennen es „peinliche Befragung“, und wozu lernen Polizisten dann überhaupt Verhörtechniken und werden nicht gleich dazu ausgebildet, mit Kneifzangen kreative Dinge am Verdächtigen anzustellen? Ohne mich in praxi damit auszukennen, würde ich behaupten, dass die meisten „peinlich Befragten“ entweder a) fanatisiert genug sind, sogar Folter zu widerstehen, oder b) auf Zeit spielen und Irreführendes von sich geben, c) gar nichts wissen und verzweifelt irgendwas erfinden, um die Situation zu beenden, oder d) unter klassischen Befragungsmethoden genauso viel verraten würden. In keinem Falle gewinnt die Polizei irgendwas, sondern verliert nur Zeit beim Überprüfen von Angaben, die den Rechtsbruch nicht wert sind, durch den sie gewonnen wurden. Auch wenn die meisten Folterszenarien eine eindeutige Auflösung der Situation suggerieren, sobald man nur „intensiver nachfragen dürfte“ (große Güte, Herr Witthaut, sie haben mir echt den Tag verdorben), halte ich genau das für den Denkfehler, der emotional zwar völlig nachvollziehbar ist, uns aber rechtsstaatlich betrachtet in die Steinzeit zurück katapultieren würde.