Selbst für den sächsischen Gesetzgeber war das am 20.01.2010 in Kraft getretene, inzwischen verworfene und heute erneut vorgelegte Versammlungsgesetz eine Meisterleistung: nicht nur, dass man im Wesentlichen einfach das Versammlungsgesetz des Bundes übernahm (denn wozu geht die Gesetzgebungskompetenz nach langem Schachern mit der Föderalismusreform 2006 auf die Länder über, wenn nicht, um die alten Bundesgesetze zu kopieren?), man packte auch noch obskure Vorschriften hinein, die dazu gedacht waren, „Nazi-Aufmärsche“ zu verhindern, insbesondere der § 15 II.
(2) Eine Versammlung oder ein Aufzug kann insbesondere verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn
- die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort von historisch herausragender Bedeutung stattfindet, der an
- a) Menschen, die unter der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Gewaltherrschaft Opfer menschenunwürdiger Behandlung waren,
- b) Menschen, die Widerstand gegen die nationalsozialistische oder kommunistische Gewaltherrschaft geleistet haben, oder
- c) die Opfer eines Krieges
erinnert und
- nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde von Personen im Sinne der Nummer 1 beeinträchtigt wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Versammlung oder der Aufzug
- a) die Gewaltherrschaft, das durch sie begangene Unrecht oder die Verantwortung des nationalsozialistischen Regimes für den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen leugnet, verharmlost oder gegen die Verantwortung anderer aufrechnet,
- b) Organe oder Vertreter der nationalsozialistischen oder kommunistischen Gewaltherrschaft als vorbildlich oder ehrenhaft darstellt oder
- c) gegen Aussöhnung oder Verständigung zwischen den Völkern auftritt.
Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, die Frauenkirche mit dem Neumarkt in Dresden sowie am 13. und 14. Februar darüber hinaus auch die nördliche Altstadt und die südliche innere Neustadt in Dresden sind Orte nach Satz 1 Nr. 1. Ihre Abgrenzung ergibt sich aus der Anlage zu diesem Gesetz.
Dieser Paragraph geht eine unschöne Allianz mit der seit der Wunsiedel-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts höchstrichterlich abgenickten Tendenz ein, den Unterschied zwischen „Sachen, die wir nicht gut finden“ und „Sachen, die wir verbieten wollen“ zu nivellieren. Wovon ich rede? Hauptsächlich vom § 130 IV StGB, der das „Billigen, Verherrlichen oder Rechtfertigen der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft“ unter Strafe stellt. Ursprünglich sollte er dazu dienen, so hässliche Dinge wie die „Rudolf-Hess-Gedenkmärsche“ in Wunsiedel leichter verbieten zu können. Versammlungen können im Wesentlichen aufgelöst werden, wenn sie die öffentliche Sicherheit (=positives Recht) oder die öffentliche Ordnung (=ungeschriebene Normen, deren Befolgung für das staatsbürgerlich geordnete Zusammenleben als unumgänglich angesehen wird) gefährden. Letzteres ist ein schwammiger Begriff und daher nur sehr eingeschränkt brauchbar, möchte man nicht dem pluralistischen Rechtsstaat den Gar aus machen. Also behalf man (= damals die Rot-Grüne Koalition) sich, indem das Billigen, Verherrlichen oder Rechtfertigen der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe gestellt, also ein Teil der positiven Rechtsordnung werden sollte. Das Gedenken an Rudolf Hess, in einschlägigen Kreisen gern als „Friedensflieger“ bezeichnet, sollte mit dieser Logik ein Verherrlichen des Nationalsozialismus darstellen, damit äußere die Versammlung eine „verbotene Meinung“ und könne aufgelöst werden.
So kam es, das Bundesverwaltungsgericht und schließlich auch das Bundesverfassungsgericht bestätigten die von den Veranstaltern der Hess-Märsche angefochtene Norm. Nationalsozialistischen Gedankengut, so die vereinfachte Kernaussage, sei mit dem Grundgesetz unvereinbar und könne daher nicht dessen Schutz genießen. Aus historischen Gründen sei daher auch ein auf eine spezielle Meinung zugeschnittenes Gesetz ausnahmsweise verfassungskonform. Und damit, hofften alle, war Ruhe. Außer im juristischen Blätterwald, wo es sofort zu rauschen begann: symbolische Gesetzgebung sei dies, eine Einschränkung der Meinungsfreiheit und außerdem schon immanent unlogisch. Denn auch Äußerungen, die den Tatbestand des § 130 IV StGB erfüllen, werden zunächst als vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit gedeckt angesehen, jedoch angesichts „des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts“ ist in diesem Fall ein Verbot einer bestimmten Meinung erlaubt. Das spiegelt den Tenor der damaligen öffentlichen Auseinandersetzung wieder, juristisch betrachtet ist das mehr als unsauber. Die Billigung historischen Unrechts von vornherein aus dem Schutzbereich des Grundgesetzes auszuschließen, da dieses gerade den Gegenentwurf zum Nationalsozialismus darstelle, hatte auch das OVG Münster gefordert, das sich tapfer mit dem BVerfG angelegt hatte und dafür reichlich verbale Prügel beziehen musste. Dies lässt sich allerdings nachvollziehbarer begründen, als mit einer Heraufbeschwörung der nationalsozialistischen Schrecken zu arbeiten, die sämtliche rechtsstaatliche Mechanismen zum Schutz Andersdenkender einfach niederreißt.
Die Sachsen gingen noch einen Schritt weiter: jegliche Verbindung zu Gewaltherrschaften oder Kriegen, sei es durch einen Ort, Gedenktag oder sonstwie, stellt einen Auflösungsgrund dar, wenn „zu besorgen“ ist, dass die Würde der Opfer beeinträchtigt wird. Hatte das Bundesverfassungsgericht (ich hoffe, wenigstens unter Schmerzen) noch ganz ausnahmsweise eine Einschränkung für speziell auf den Nationalsozialismus bezogene Meinungen zugelassen, geht dieses Gesetz darüber hinaus und lässt Versammlungsverbote theoretisch auch dann zu, wenn die Würde der Opfer der kommunistischen Diktatur und im Prinzip beliebiger Kriege in Gefahr zu sein scheint. Spätestens hier bewegen wir uns in einem diffusen Feld von Assoziationen, und „Würde der Opfer“ ist ein Schutzgut, das mir Bauchschmerzen bereitet, denn um rechtlich tragbar zu sein, müsste es genauer bestimmt werden, was letztendlich zu der zynischen Frage führt, wer Opfer ist und wer nicht. Einer ging sogar so weit, die Würde aller sich mit den Opfern verbunden Fühlender mit hineinzubeziehen. Außerdem wird weder hier noch sonst irgendwo klar, was die Gesetzgeber, der des Bundes und später der sächsische, mit der Opferwürde meinen. Menschenwürde? Eine spezielle Opferwürde, die nur hat, wer systematisch verfolgt wurde? Leider verhallten bei der Bundestagsdebatte um § 130 IV die Einwände der FDP ungehört, die damals ausnahmsweise tat, was ich von einer liberalen Partei erwarten würde, und genau diese Fragen aus Tapet brachte, sich dafür allerdings Totschlagargumente á la „Sie wollen doch nicht die Würde der Opfer leugnen!“ gefallen lassen musste.
Aus genau diesen Gründen war denn auch das sächsische Versammlungsgesetz höchst umstritten, die Grünen zogen vor den Sächsischen Verfassungsgerichtshof. Der machte sich nicht mal die Mühe, bis zum Inhaltlichen vorzudringen, sondern erklärte das Gesetz aus formellen Gründen für verfassungswidrig: es war nicht als eigenständiger Text, sondern als Sammlung von Änderungen zum Bundesversammlungsgesetz vorgelegt worden, sodass niemand die „Endversion“ zu Gesicht bekommen hatte, sondern nur ein schwer lesbares Sammelsurium aus Anmerkungen und Ergänzungen.
(Man lasse sich dies auf der Zunge zergehen. Hatten sie im Justizministerium nicht mal einen Praktikanten über, der das Ganze abtippen konnte?)
So geht´s nicht, befand der SächsVG, und man spekulierte eifrig, ob die Staatsregierung den Nerv haben würde, das Gesetz einfach nochmal als Volltext vorzulegen, was sie heute auch getan hat. Die Grünen wollen wieder klagen, allerdings haben sie sich in der Zwischenzeit nochmal ihre Position überlegt: jetzt dient das Gesetz ihrer Meinung nach dazu, den „friedlichen Protest gegen Nazidemos zu kriminalisieren“. Als wäre das Drama um ein sächsisches Versammlungsrecht nicht schon irrwitzig genug, ohne dass man ein absurdes Gesetz auch noch falsch versteht.