Freihandel

Anstatt eines Rosenkranzes

Aufgrund von Leserkommentaren und -nachfragen (Danke dafür!) ist mir aufgegangen, dass mein TTIP-Rant Unklarheiten, Unrichtigkeiten und vorschnelle Annahmen enthält. Das ist mir natürlich besonders peinlich, weil ich mich so vom hohen Ross herab über die ZEIT aufgeregt habe, und soll mir eine Lehre für die Zukunft sein. Da ich aber mit klassischen Bußübungen wie Rosenkränzen nicht besonders vertraut bin, versuche ich mich stattdessen nochmal an einer sachlichen Variante, um mich nicht mit den TTIP-Gegnern auf eine Stufe stellen lassen zu müssen.

Wer beschließt das Abkommen?

Jens Jessen hat von einem „anonymen Handelsabkommen“ geschrieben, den „das internationale Kapital“ abschließen will, ich von einem völkerrechtlichen Vertrag, der von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden müsste. Die Bundesregierung geht davon aus, dass es sich um ein sogenanntes „Gemischtes Abkommen“ handeln wird, dass sowohl vom Europäischen als auch jedem nationalen Parlament einzeln ratifiziert werden muss (Quelle: Plenarprotokoll 18/7, S. 65 in der PDF bzw. 387 des Dokuments, zu finden hier). Das hängt vom Umfang der endgültigen Vereinbarungen ab: sind Kompetenzen der Mitgliedsstaaten von dem Abkommen betroffen, ist es ein gemischtes. Wäre es ein rein handelsbezogenes Abkommen, wären die Artikel 207 und 218 des AEUV einschlägig, und es würde vom Europäischen Rat beschlossen (der aus den Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten besteht). Gemäß Art. 218 Abs. 6 lit. a) Nr. v.) AEUV ist eine Zustimmung des Europäischen Parlamentes zu diesem „Abschlussbeschluss“ notwendig, was wohl einschlägig sein dürfte, weil auf der Parlamentshomepage genau das steht: auch Handelsabkommen bedürfen der Zustimmung des Europaparlaments. Mindestens ein Parlament ist also auf jeden Fall beteiligt.

Sind die Verhandlungen noch geheim?

Jain. Die Kommission ist ausdrücklich um mehr Transparenz bemüht, veröffentlicht die Positionspapiere und hat eine Online-Konsultation gestartet (wer sich konsultieren lassen will: hier entlang), der wohl auch weitere folgen sollen. Das Bundeswirtschaftsministerium überschlägt sich derweil beinahe vor lauter Informationsangeboten. Nachteil: einige Informationen, vor allem der Kommission, sind teilweise nur auf Englisch erhältlich, und das ganze ist ein unübersichtlicher Wust, der einiges an Lesezeit verlangt. Der Verbraucher, so er informiert sein will, kommt da anscheinend nicht drumherum. Eine, soweit ich das beurteilen kann, brauchbare Übersicht zu den dringlichsten Fragen gibt´s bei der FAZ.

Sind Lobby- und Interessengruppen das gleiche?

hcvoigt wies mich daraufhin, dass es strukturelle Unterschiede zwischen beiden gebe und ich mich eines rhethorischen Kniffes bedient hätte, indem ich sie gemeinerweise zusammengeworfen hätte. Das ließe ich nur ungern auf mir sitzen, denn ich ging naiv davon aus, dass Gruppen, die in irgendeiner Weise versuchen, Politik zu beeinflussen, durchaus wesensverwandt sind. Laut Wikipedia ist Interessenvertretung ein Oberbegriff für alle Gruppen, die bestimmte Interessen definieren und vertreten, vom Schülerrat über den Wiselzüchterverband bis zu Umweltschutzgruppen, also auch dauerhafte Zusammenschlüsse, die sich immer wieder mal zu Wort melden. Lobbyismus dagegen sei eine Unterform der Interessenvertretung, die gezielter und projektbezogener vorgeht. Das Piratenwiki geht sogar noch weiter und wirft auch Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen in den Lobbytopf. Etwas erhellender war tatsächlich dieser Gute-Frage-Thread, in dem einige Antworten meinen Verdacht bestätigten, dass Lobbying teilweise als Aktion einer dubiosen bis korrupten Minderheit verstanden wird, während Interessenvertretung als mehrheitsfähig und allgemeinwohlbezogen eingestuft wird. Je nachdem, welcher Definition man sich anschließt, sind es also tatsächlich zwei verschiedene Paar Schuhe, vor allem für jemanden, der Lobbying als negativ konnotiert wahrnimmt. Bezieht man sich aber auf die Wikis, dann sind gerade kleine, aktionsstarke Gruppen wie Campact Lobbyverbände aus dem Lehrbuch.

Und was ist mit den Schiedsgerichten?

Internationale Schiedsgerichtsbarkeit ist, wie ich beim Recherchieren festgestellt habe, ein durchaus vielschichtiges und spannendes Thema, dem ich gern an anderer Stelle gerecht werden möchte (sprich: nicht mehr heute). Jedenfalls suspendieren sie weder Demokratie noch Rechtsstaat, wie Herr Jessen meint, sondern können im Gegenteil sogar Ergänzungen dazu darstellen und Lücken schließen (jedenfalls unter bestimmten Voraussetzungen). Grundsätzlich scheinen Schiedsgerichte nicht halb so wild zu sein, wie gern suggeriert wird. Es gibt umfangreiche Erfahrungen damit, und Deutschland bzw. die EU haben mit etlichen Ländern Schiedsvereinbarungen, ohne dass die Demokratie bislang untergegangen wäre. Zur einstweiligen Beruhigung sei diese Infographik vom Physiokraten empfohlen, nach der gerade mal 31 % aller Schiedsgerichtsverfahren zugunsten der Investoren ausgingen.

Freihandel tötet

… vor allem das nüchterne Denken, deucht mir manchmal. Ein besonders schönes Gemisch aus kulturpolitischem Mimimi und schlichter Falschinformation ist der ZEIT heute gelungen.

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Bereich der Kulturpolitik, die immerhin vergleichsweise früh protestiert hat, und stellen uns einen amerikanischen Filmproduzenten vor, der auf dem europäischen Markt dem subventionierten deutschen oder französischen Kino begegnet. Nach dem Willen der TTIP könnte er verlangen, dass ihm die gleichen Subventionen gezahlt werden – oder ersatzweise sämtliche Subventionen gestrichen werden.

Meine Rede seit ´87. Wo liegt der Grund dafür, dass eine Sache subventioniert wird, und eine andere nicht? Wieso ist es anscheinend nicht in Ordnung, dass er amerikanische Filmproduzent verlangt, ebenfalls subventioniert zu werden, aber in Ordnung, wenn ein deutscher Produzent das will? Vielleicht gibt es fördernswerte amerikanische Filmproduzenten da draußen. Der deutsche hat es wahrscheinlich trotzdem wesentlich nötiger, aber das allein ist noch kein Grund. Subventionen sind toll, wenn man auf Gerechtigkeitslücken steht, denn sie schaffen erst welche.

Der Punkt besteht darin, dass demokratische Parlamente in Europa beschlossen haben, ihre Filmindustrie zu fördern – und nun erleben müssten, dass dieser oder andere Beschlüsse durch das Abkommen kassiert würden, automatisch sozusagen und ohne jede ausdrückliche demokratische Entscheidung.

Das könnte ein Argument sein. Würden die demokratischen Parlamente in Europa nicht das Abkommen ratifizieren, wenn sie es denn ratifizieren würden. Aber sie müssten jedenfalls, damit es in Kraft treten kann. Oder sie ratifizieren eben nicht. Jedenfalls sollten sie idealerweise das Abkommen, von dem wir ja noch gar nicht wissen, wie es aussehen wird, und ob genau dieser Punkt drin sein wird, lesen. Von „ohne jede ausdrückliche Entscheidung“ ist also keine Rede. Das klingt hier, als schlössen finstere Mächte über die Köpfe der demokratisch gewählten Volksvertreter hinweg ein Abkommen, dass keiner je zuvor gelesen hat und für alle völlig überraschend kommt. Das, mit Verlaub, ist Quatsch. Das Abkommen wäre wohl ein völkerrechtlicher Vertrag im Sinne des Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz, und dem müssten hierzulande Bundestag und vielleicht auch Bundesrat zustimmen. Würde das Parlament dann noch vom TTIP überrumpelt, dann… wäre ihm sowieso nicht zu helfen.

Keine große oder kleine deutsche Bühne, schon gar kein Opernhaus, wäre auf sich gestellt lebensfähig; im Gegensatz zu den Musicalunternehmungen, die sich krakenartig auf Kosten der Hochkultur ausbreiten würden.

Standesdünkel, ick hör dir trapsen. Zusammen mit dem Untergang des Abendlandes. Die doofen Massen, rennen nur in die blöden Musicals, und lassen die staatlichen Kulturinstitutionen links liegen. Warum brauchen wir die dann gleich nochmal? Da drängen sich ja Parallelen zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk geradezu auf.

Abermals ließe sich natürlich sagen, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, Institutionen künstlich am Leben zu erhalten, die sich nicht allein am Markt behaupten könnten.

Warm, wärmer, es wird gleich heiß…

Doch wäre das abermals nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist allein, dass es der Wille einer Stadt oder eines Landes war, eine solche Bühne zu unterhalten, aus Gründen der Tradition oder Bildungspflege oder des Stolzes, und dass die Demütigung des Stadt- oder Landesparlamentes beispiellos wäre, wenn es das nach dem Willen eines anonymen Handelsabkommens nicht mehr dürfte.

Und die beispiellose Demütigung des Steuerzahlers, dessen Geld nach dem Willen eines anonymen Stadt- oder Landesparlaments in komischen Kulturkram fließt, anstatt in Eintrittskarten in etwas, was ihn oder sie stattdessen interessiert, was ist mit der? Davon ab: wenn Parlamente Quatsch beschließen, dann müssen sie damit leben, dass dieser wieder kassiert wird. Ganz allgemein gesprochen. Nur weil ein Legislativorgan irgendetwas will, heißt das nicht, dass es Maßstab allen Denkens und Handelns sein muss. Und wenn es nicht Aufgabe des Staates ist, bestimmte Dinge zu tun, dann brauchen Parlamente diese auch nicht zu beschließen. Egal. Die Kulturfeindlichkeit des TTIP ist schließlich nicht alles:

Es handelt sich um einen Vertrag, den das internationale Kapital zulasten der nationalen Demokratien abschließen will.

Geht das nur mir so, oder klingt das nach einer editierten Variante von „das internationale Finanzjudentum“? Okay, der Vorwurf ist unfair, ich nehme ihn zurück. Aber wer ist „das internationale Kapital“? Es klingt so schön finster, und ein bisschen wohlig-gruselig. Kinder, zieht die Bettdecken rauf, das internationale Kapital könnte im Schatten da oben auf dem Schrank sitzen. Wenn ihr ganz still seid, dann hört ihr es vielleicht sogar leise und hämisch kichern.

Der Vertrag sieht aber nicht nur Schadensersatz vor, wenn Verfassungsorgane des Staates renditeschmälernd tätig werden.

Nein, nicht „nicht nur“. Einfach nur „nicht“. Das steht da so nicht drin. Drin steht, neben viel allgemeinem Bla, dass ich nicht zu deuten vermag, dass Investitionen Rechtsschutz und -sicherheit genießen sollen, jedenfalls innerhalb gewisser Grenzen, und dass dafür ein Schiedsverfahren in Betracht kommt. So wie es sich oben liest, könnte man auf die Idee kommen, dass TTIP sei bereits die Anspruchsgrundlage für Schadenersatzforderungen von Konzernen gegen Staaten. Das grenzt an gezielte Desinformation. (Korrektur: Irrtum meinerseits, der Vertrag wäre dann wohl in der Tat die Anspruchsgrundlage.)

Dass die TTIP damit ein klassisch sittenwidriger Vertrag wäre, der einen Vertragspartner einseitig benachteiligt und mit Risiken belastet, die nicht in seiner Verantwortung liegen, ist noch der geringste Einwand.

Verträge sind nicht allein deshalb sittenwidrig, weil sie Vertragspartner einseitig belasten. Wer vertraglich ein Risiko übernehmen will, über das er keine Kontrolle hat, kann das trotzdem tun, etwa, weil es ihm einen anderweitigen Vorteil bringt, den sein Vertragspartner dafür rausrückt. Für Sittenwidrigkeit ist das also kein Argument. Außerdem wird TTIP wohl kaum am § 138 BGB gemessen, aber selbst wenn, müsste das Herrn Jessen eigentlich beruhigen, denn sittenwidrige Verträge sind demzufolge nichtig.

Die Schiedsgerichte, die der Vertrag für den Streitfall vorsieht, machen die Sache nicht besser, im Gegenteil: Sie tagen geheim, mit privaten Anwälten besetzt, und ihre Urteile sind vor nationalen Gerichten nicht anfechtbar.

Private Anwälte. Duh. Gibt es auch öffentliche Anwälte? Wieder so ein diffuses Feindbild, das den Leser seinen herbeiassoziierten Ängsten überlässt. Abgesehen davon ist das in der Tat auch meiner Meinung nach ein Punkt, der nicht ins TTIP sollte. In der EU herrscht ein durchaus zufriedenstellender Rechtsschutzstandard (könnte noch höher sein, aber hey), und die Unternehmen sollen gefälligst die vorhandenen Rechtswege benutzen. Übrigens wäre das eine schöne Gelegenheit, eine Art gesamteuropäische Normenkontrollklage einzuführen, die jedermann zugänglich ist… aber ich schweife ab.

Alles in allem würden Gesellschaft und Staat durch den Vertrag auf eine unerträgliche Weise in ihren Zukunfts- und Lebensplanungen eingeschränkt.

Das Kleingeld war alle. Mich wundert, dass noch niemand (von dem ich weiß) TTIP mit Hitler verglichen hat, denn anscheinend ist es die schlimmste Geißel, die Europa seit diesem zu befürchten hat.

Tatsächlich muss ein Argument gegen die Verfechter der TTIP gefunden werden, die massenhaft neue Arbeitsplätze und Wohlstand versprechen und darum, wie das Beispiel Sigmar Gabriels zeigt, keineswegs nur auf der rituell verdächtigten Arbeitgeberseite zu finden sind.

Nett, dass er ein Argument suchen will (es aber selbst anscheindend nicht findet), und weniger nett, dass bestimmte Gruppen „rituell verdächtig“ sind. Das ist übrigens etwas, was mich nervt: Gruppen, die Interessen haben, sind per se böse – solange sie nicht mit den eigenen übereinstimmen. Wenn die eigenen Interessen artikuliert werden, dann geht es plötzlich ums Allgemeinwohl. Umweltschutzorganisationen, Gewerkschaften sowie Campact & Co. sind auch nur Lobby- und Interessenverbände. Just sayin´.

Vielleicht haben wir zu lange Freiheit und Wohlstand zusammengedacht, als dass wir noch wüssten, dass sie auch auseinandertreten können. Aber wenn uns die Demokratie etwas wert ist, müssten wir auch bereit sein, uns von einem Freihandel, der sie bedroht, abzuwenden und eine Freiheit in Armut zu wählen.

Wait… What? Mir fiel ja bei „Wohlstand ohne Freiheit“ spontan die DDR ein, aber so weit war es da mit dem Wohlstand auch nicht her. Was zur Hecke meint er also? Mit TTIP werden unsere Handlungsmöglichkeiten aufs Unerträglichste beschänkt, ohne TTIP versinken wir in Armut, was auch nicht gerade handlungserweiternd ist. Was macht die Entscheidung dann so deutlich? Ganz ehrlich: Ich verstehe es aufrichtig nicht, sonst hätte ich schon längst eine zynische Schlusspointe gesetzt.